Buch der Woche am 19.1.2015

Von Hasen und anderen Europäern. Geschichten aus Kiew

Stand
Autor/in
Michael Moritz

Frauenleben in Kiew. Leben zwischen Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Beziehungswirklichkeit. Mit diesen Geschichten erzählt Tanja Maljartschuk auch von der gegenwärtigen Situation der Ukraine, denn auch sie steckt im Dilemma, politisch gesehen, zwischen Zuneigung zur EU und der Beziehung, die Russland dem Land aufzwingt.

Faszinierend zu lesen, wie unaufdringlich – weil intellektuell subtil gekonnt - Tanja Maljartschuk die persönliche und die politische Ebene miteinander verschmilzt. Es sind spannende, harte Geschichten, die uns mehr über die Menschen und die Ukraine aufklären, als wir zu wissen glauben.

Jede Geschichte des Buches trägt als Überschrift den Namen eines Tieres, sogar mit zoologischer Wissenschaft. Und die Tiere tauchen auch immer artig in den Geschichten auf - aber es geht nicht wirklich um Tiere, sondern um Menschen. Um Menschen mit Sehnsüchten und Träumen. Vor allem um Frauen, die ihren Platz suchen, in einer Welt, die ihnen verwehrt, was ihnen zusteht. Sie basteln sich Strategien, scheitern, versuchen es auf ein Neues - und wenn gar nichts mehr hilft, knechten sie die eigene Phantasie soweit, dass sie selbst dem Leser als Realität gelten will. "Männer werden hilflos, wenn man plötzlich ihre Frauen erwähnt." Und "Was wir verweigern, macht uns stark.", denkt die Ärztin Allotschka in der Geschichte: Die Qualle.

Zwei Frauen. Ärztin und Patientin. Die eine fürchtet sich vor dem Schwimmen lernen. Die andere träumt schweißgebadet von dem Krieg, den sie auslöst, wenn sie von einem Mann, den sie begehrt, alles fordert. Einsame Frauen, die Tiere füttern, sich als Heuschrecken empfinden und zwischen Quallen, weit im Meer ihre Schmerzen und Tränen verlieren.

In "Der Ratz", erklärt die Alte Alewtyna der alleinstehenden Tamara, wie man mit Ratten umzugehen hat. "Hinterrücks. Wie es sich für eine Frau gehört." Und die Ratte ist ein Mann, ein Schmarotzer, der Alewtynas Traum von Zweisamkeit zerstört hat. Darum hat sie ihn auch vergiftet. Weil sie schlauer war als der Ratz. Auch Tamara besiegt ihre Ratz - ob es eine echte Ratte hinter dem Kühlschrank oder nur ein Sehnsuchts-Ratz war, die Autorin verrät es uns nicht. Sie hält es in der Schwebe. Das tut sie gern. Und das gefällt mir. Wir wissen nur, dass Tamara weiterhin mit dem Ratz spricht, obwohl sie ihm den Tag zuvor den Hals umgedreht hat, weil er Mitleid mit ihr hatte und sie trösten wollte. Oder folgt auf einen Ratz gleich der nächste? Kriegt man die Männer gar nicht los?

Die Männer kommen schlecht weg, in Maljartschuks Kiew. Entweder sie stinken, kapieren nichts, saufen, fressen oder sind unromantisch. Aber sie sind notwendiges Übel, weil die Frauen diese gemeine Sehnsucht zum Manne in sich tragen, die sich mit Tieren, Kakteen und Schundromanen allein nicht befriedigen lässt. "Alle Männer sind Hunde", denkt die Hausverwalterin Elvira, vor der sich jeder fürchtet, wenn er etwas zu beanstanden hat. Sie zielt und trifft den Nerv. Wer eintritt ist Opfer und wünscht nie gelebt zu haben.

In "Der Haushund" wendet sich die Autorin sogar direkt in der zweiten Person an den männlichen Leser. Du bist ein Mieter, der im 8.Stock lebt und seit drei Monaten die Treppen steigen muss, weil der Aufzug defekt ist. Du willst dich beschweren. Aber Elvira sieht dich nur an und sagt genau den Satz, der dich erledigt: "Was hast du Zustande gebracht?". Diese Frage zersetzt dich. Dein Selbstverständnis löst sich auf wie ein Stück Hirn in Salzsäure. Du bist froh, wenn Elvira dich hinterm Ohr krault. Auf dem Rücken liegst du längt und winselst, alle Viere von dir gestreckt.

Doch es gibt nicht nur die dunklen, abgebrühten Frauen, in Maljartschuks Kiewer Tiergarten. Da sind auch die Naiven, an ihrer Dummheit zerbrechenden. So ist sich das dreiundzwanzigjährige Haushuhn Kapitolina, das, aus der Provinz kommend, in einem Supermarkt an der Fischtheke ihre Karriere startet, über die beiden Bestimmungen einer Frau sicher: Liebe und Barmherzigkeit. Und gerade daran wird Kapitolina zu Grunde gehen. Weil sie den Fischen nicht ohne schlechtes Gewissen die Köpfe abhacken kann, wird es aus der Karriere nichts. Und auf der Straße macht sie sich die Opernsängerin und den Lupenverkäufer zu verderblichen Gegnern, weil sie den Passanten gratis aus der Hand liest. Wenn sie dann zusammengeschlagen in der Gosse liegt, bleibt auch ihr nur der Traum vom stummen Retter, der plötzlich jene Sätze sprechen kann, die sie in ihren Schundromanen so gerne gelesen hat.

Der Hase, verrät mir endlich, was es mit den "Anderen Europäern" auf sich hat. Der zoologische Name des Hasen lautet nämlich "laepus europaeus". Ein Wortspiel. Ein Witz? Vielleicht. Aber die Autorin ist zu politisch, um sich bloß einen Kalauer zu leisten. Es passt ihr in den Kram. Ich kann mir sogar vorstellen, dass sie alle die anderen Geschichten nur geschrieben hat, weil der Anstoß durch diesen "laepus europaeus" eine Assoziationskette angestoßen hat. Die Ukraine. Eingepfercht zwischen EU und Russland.

Tanja Maljartschuk hat eine deutliche Meinung zu Putin und Russland. In einem Interview, dass die in Wien lebende Autorin am 31.03.2014 der Wiener Zeitung gegeben hat, sagt sie: "Für mich ist Putin keine reale Person, sondern die Vorstellung vom Bösen schlechthin. Dem Bösen, das jetzt der Ukraine droht. Eine ganz reale Bedrohung für ukrainische Familien, für ukrainischen Grund und Boden. Die Bedrohung für die Existenz des Landes ist so groß, dass ich nur Hass und Angst spüre." Und auf einer Lesung im Literaturhaus Frankfurt, ebenfalls im März 2014, sagt sie: "Ich hasse dich nicht mehr. Ich weiß, dass es mich stärker macht. Hass ist dein Futter. Schau, wie groß bist du geworden Russland. Russland, ich liebe dich."

Auch Russland ein Tier? Gemässtet von Hass? Liebe nicht ihrer selbst Willen, sondern, weil sie Stärke verspricht? Russland, der herrische Mann? Die Ukraine, die unterdrückte Frau? Vielleicht zu einfach gedacht. So, wie man die reale und die Traumwelt in Maljartschuks Geschichten nicht einfach trennen kann. Sie greifen ineinander. Ansatzlos. Überraschend und irritierend. Kaum findet man sich in der einen Welt zurecht, verstört die andere. Sie gehören zusammen. In Maljartschuks Kiewer Zoo. Unzertrennlich. Wie Zuckerbrot und Peitsche. Hass und Liebe. Mann und Frau. Sie gehören zusammen, aber sie kommen nicht zusammen. Nur die Sehnsucht bleibt. "Ich habe das, was mir zusteht. Nichts also.", sagt die Gemüsefrau Halschka, die es ankotzt, dass die Leute nur Kartoffeln kaufen. Und doch träumen sie immer denselben Traum: Die Furcht vor dem Schwimmen lernen.

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Autor/in
Michael Moritz