Oscar für das beste Originaldrehbuch

„Anatomie eines Falls“ mit Sandra Hüller: Chronik der dunklen Seiten einer Ehe 

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AUTOR/IN
Rüdiger Suchsland

Ausgezeichnet mit dem Golden Globe als bester nicht-englischsprachiger Film und ausgezeichnet mit dem Oscar für das beste Originaldrehbuch: In ihrem vierten Spielfilm seziert die französische Regisseurin Justine Triet eine Ehe zwischen einer erfolgreichen Schriftstellerin und ihrem erfolglosen Ehemann. Hauptdarstellerin Sandra Hüller ist für den Oscar als beste Hauptdarstellerin nominiert.

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Sezierung von Fakten

Anatomie - dieser Begriff im Titel ist nicht zufällig gewählt: Das Konzept der Anatomie hat mit der Forensik zu tun. Die Idee ist, Fakten so zu sezieren, dass am Ende eine gewisse Form der Objektivität herauskommt. Der hier verhandelte Fall scheint einfach zu sein. Eine hervorragende Sandra Hüller spielt eine erfolgreiche Schriftstellerin, die sich auf autobiografische Werke spezialisiert hat.

Unfall oder Selbstmord?

Zu Beginn gibt die Schriftstellerin ein Interview und erweist sich hier als kühle, kalkulierende, ein bisschen arrogante, sehr selbstbewusste Person. Sie lebt mit ihrem Ehemann, einem erfolglosen Schriftsteller zusammen, der seine Frustration aggressiv nach außen trägt. Sie haben einen Sohn, der nach einen Unfall ein stark beeinträchtigtes Sehvermögen hat. 

Filmstill
Seit fast zwei Jahren leben Sandra (Sandra Hüller), eine deutsche Schriftstellerin, ihr französischer Ehemann Samuel (Samuel Theis) und ihr elfjähriger Sohn Daniel zurückgezogen in einem kleinen Ort in den französischen Alpen. Bild in Detailansicht öffnen
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Der stark sehbehinderte Daniel (Milo Machado Graner) findet nach einem Spaziergang seinen Vater vor dem Chalet blutend im Schnee. Bild in Detailansicht öffnen
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Die herbei gerufene Ambulanz kommt zu spät. Samuel Maleski (Samuel Theis) ist tot. Woher kommt die klaffende Kopfwunde? Ist er aus dem Fenster im dritten Stock gestürzt und auf das Vordach aufgeschlagen oder kommt die Verletzung von einem massiven Schlag? War es ein Unfall, Selbstmord oder Mord? Bild in Detailansicht öffnen
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Zweimal wird Sandra (Sandra Hüller) von der Polizei befragt, trotz Mangels an Beweisen gerät sie unter Verdacht, ihren Mann umgebracht zu haben. Bild in Detailansicht öffnen
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Ein Jahr nach dem traurigen Ereignis wird der Prozess eröffnet, in dem überraschende Zeugenaussagen und Enthüllungen für Spannung sorgen. Immer wieder versucht der Staatsanwalt (Antoine Reinarzt), Sandras Bisexualität, ihre kühle und beherrschte Haltung sowie ihre Bücher als mögliche Indizien für die Tat anzuführen. Bild in Detailansicht öffnen
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Es entsteht ein intim-irritierendes Porträt einer in sich zersplitterten Frau im Spagat zwischen erfolgreicher Schriftstellerin und fürsorglicher Mutter. Bild in Detailansicht öffnen
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An einem der nächsten Verhandlungstage platzt die Bombe. Dem Gericht wird ein USB-Stick präsentiert mit einer von Samuel heimlich aufgenommenen Audio-Aufnahme des harten Streits am Vorabend seines Todestages. Bild in Detailansicht öffnen

Kurz nach dem besagten Interview stürzt der Ehemann vom zweiten Stock des Hauses tödlich ab. Ein Unfall? Im Prinzip könnte es sich auch um Selbstmord handeln, aber es besteht ebenfalls die Hypothese eines Mordes. 

 „Szenen einer Ehe" von Igmar Bergmann blitzen auf

Die Schriftstellerin wird unter Mordverdacht gestellt, angeklagt und muss sich vor Gericht verantworten. Der einzige wichtige Zeuge in diesem Fall ist das Kind, das tief in die dunklen Seiten des Lebens seiner Eltern eintauchen muss.

Obwohl sich etwa anderthalb Stunden des Films auf den Prozess konzentrieren, besteht der Clou von Regisseurin Justine Triet darin, das juristische Instrumentarium zu nutzen, um eine Anatomie des Paares in Rückblicken zu vollziehen. Das erinnert an Ingmar Bergmanns Melodrama „Szenen einer Ehe". Triet bringt der Film eine Nominierung für den prestigeträchtigen Regie-Oscar ein.

Chronik der dunklen Seiten einer Ehe 

Während des Gerichts-Prozesses werden die Spannungen in der Ehe deutlich, die Eifersucht des Ehemanns. Der Sohn war dabei und hat alles gehört, aber nichts gewusst. Der Film ist keine Suche nach der Wahrheit der Tatsachen, sondern eine Chronik der Geheimnisse der Ehe.

Ebenso ist der Film eine Reflexion über den Schmerz, der mit der Erinnerung an dunkle Ereignisse verbunden ist. Ein Film, der ebenso wie die hypothetischen Selbstfindungsromane der Protagonistin davon erzählt, wie sich die Realität in Fiktion verwandelt, in subjektive, perspektivische Deutungen. 

Gut geölte Erzählmaschine

Einwenden lässt sich, dass die Regisseurin eine im Kino schon tausendmal benutzte, etwas zu gut geölte Erzählmaschine anwirft. Zum Teil wirkt der Film recht konstruiert und erinnert an die Struktur eines Fernseh-Dreiteilers.

Ein paar Erzähltricks scheinen allzu offensichtlich als Werkzeug zur Lösung des Falles zu fungieren. Mit zweieinhalb Stunden ist „Anatomie eines Falls" vielleicht etwas zu lang für die erzählerische Substanz, die der Stoff enthält. 

Trailer „Anatomie eines Falls“, ab 2.11. im Kino

 

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