Bahnhofsvorsteher Sebastian Imhof mit Tochter Gertrud (rechts mit Puppe) am Haltepunkt "Wildpark" (erste Hälfte der 40er Jahre)

Vergessene Gegner des NS-Regimes

Eisenbahner im Widerstand: Sebastian Imhof versteckte die Jüdin Else Eberle

Stand
AUTOR/IN
Hermann Abmayr

Eine SWR-Recherche zeigt, dass der Eisenbahner Sebastian Imhof die Jüdin Else Eberle vor den Nazis versteckt hat. Ihr Mann Josef wurde 1945 einer der Herausgeber der Stuttgarter Zeitung.

1943, Flieger-Alarm in Stuttgart. Else und Josef Eberle eilen zusammen mit ihrem Foxterrier vom Sandweg 7 im Stadtteil Heslach hoch zur Bahnstation Wildpark und dann runter zur nahen Pfaffendole, eine mannshohe Betonröhre, die die Reichsbahn als Luftschutzbunker nutzt. Der Vorsteher des kleinen Bahnhofes an der Stuttgarter Panorama-Strecke, über die man auf der Gäubahn-Linie bis nach Zürich fahren kann, ist bereits da. Zusammen mit seiner Frau Klara und den beiden Töchtern.

Viel geändert hat sich an dem in den 60er-Jahren stillgelegten Haltepunkt bis heute nicht. Imhofs Tochter Gertrud ist im Reichsbahner-Häuschen daneben aufgewachsen. Am Ende des Krieges ist sie zehn Jahre alt. Bei jedem Fliegeralarm, so erinnert sie sich, rief ihr Vater: "In die Dole, sofort in die Pfaffedole!" Man habe die Wasserrinne mit Brettern überdeckt und Bänke daraufgestellt. Und irgendwann seien die Eberles mit ihrem Hund "Kasperle" dabei gewesen. Sie hätten ihren Vater darum gebeten, da man den kleinen Hund in die öffentlichen Bunker nicht mitnehmen durfte.

NSDAP-Mitglied Sebastian Imhof beweist Menschlichkeit

Erst etwas später erfährt Imhof, der NSDAP-Mitglied ist, den wahren Grund. Else Eberle ist als Jüdin der Zugang zu öffentlichen Bunkern und Stollen untersagt. Dabei leben damals von den einst (Stand Mai 1939) 2.400 Stuttgarterinnen und Stuttgartern, die die Nazis als Juden definieren, nur noch 200 bis 300 in der Stadt.

Die beiden Eberles beschreiben die Geschichte in einer Erklärung für die Spruchkammer im Februar 1946 so: "Der Vorsteher der Haltestelle Wildpark, Herr Imhof, gestattete uns sofort und in wahrhaft menschlicher Weise bei Luftangriffen die der Reichsbahn gehörige zum Luftschutzraum ausgebaute Dole aufzusuchen. Von dieser Genehmigung haben wir bis zum Einmarsch der Franzosen, den wir ebenfalls dort erlebt haben, Gebrauch gemacht." Der Reichsbahnbeamte sei vom stellvertretenden Ortsgruppenleiter der NSDAP in Heslach deshalb "mit einer Anzeige und dem Verlust seiner Stellung bedroht worden". Trotzdem habe "Herr Imhof die Genehmigung nicht zurückgezogen".

Der stille Helfer: Eisenbahner Sebastian Imhof aus Stuttgart. Erste Hälfte der 40er Jahre. (Foto-Montage)
Der stille Helfer: Eisenbahner Sebastian Imhof aus Stuttgart. Erste Hälfte der 40er Jahre. (Foto-Montage)

Imhof setzte das Leben seiner eigenen Familie aufs Spiel

Auch von einem Vorgesetzten sei Imhof gewarnt worden, erinnert sich dessen Tochter. "Man hat ihm gesagt, er hätte doch eine Familie." Auch das konnte Imhof nicht einschüchtern. Er sei nicht damit einverstanden gewesen, wie die Nazis mit den Juden umgingen, erinnert sich seine Tochter.

Bahnhofsvorsteher Sebastian Imhof mit Tochter Gertrud (rechts mit Puppe) am Haltepunkt "Wildpark" (erste Hälfte der 40er Jahre)
Bahnhofsvorsteher Sebastian Imhof mit Tochter Gertrud (rechts mit Puppe) am Haltepunkt "Wildpark" (erste Hälfte der 40er Jahre)

In dem Schreiben der Eberles, das heute im Staatsarchiv in Ludwigsburg liegt, heißt es auch, dass Josef Eberle ein "politisch Verdächtiger" gewesen sei. Der gelernte Buchhändler und Schriftsteller, der beim Süddeutschen Rundfunk (SDR) gearbeitet hatte, galt Ende der 20er und Anfang der 30er-Jahre als linksliberal. Man warf ihm wohl deshalb "kommunistische Betätigung" vor, was er immer zurückgewiesen hat. Beim SDR war er damals nicht nur Leiter der sogenannten Vortragsabteilung, sondern auch Betriebsrat.

Redakteur Josef Eberle (vorne links) mit Kollegen im SDR-Studio, 1932
Redakteur Josef Eberle (vorne links) mit Kollegen im SDR-Studio, 1932

Deportation der Juden - Else Eberle blieb verschont

Im März 1933, also wenige Wochen nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, besetzen SA und SS die Räume des Süddeutschen Rundfunks am Stuttgarter Charlottenplatz. Sieben Beschäftigte werden entlassen, teilweise wegen jüdischer Abstammung, teilweise aus politischen Gründen. Darunter Josef Eberle. Die Nazis sperren ihn später für sechs Wochen ins Konzentrationslager Heuberg auf der Schwäbischen Alb. "Schutzhaft" nennen sie das. Die Wohnung des jungen Paares wird mehrmals durchsucht. 1936 schließlich erhält Eberle Schreibverbot.

Von den Deportationen in Stuttgart Anfang der 40er-Jahre bleibt Else Eberle verschont, weil sie mit ihrem Mann in einer "privilegierten Mischehe" lebt, wie es in der NS-Terminologie heißt. Denn Josef Eberle ist ein sogenannter Arier. Auch die Umquartierung in eine "Judenwohnung" bleibt seiner Frau deshalb erspart und das Tragen des Judensterns. Doch Anfang 1945, als das Konzentrationslager Auschwitz bereits befreit ist, heben die Nazis die Regelungen für "Mischehen" auf. Else Eberle soll jetzt doch in ein KZ deportiert werden. Offiziell heißt es "zu einem auswärtigen Arbeitseinsatz". Tatsächlich wird es die letzte Deportation von Juden aus Württemberg sein – nach Theresienstadt.

"Er ist nicht damit einverstanden gewesen, wie die Nazis mit den Juden umgingen."

Unterschlupf im Bahnhof Wildpark

Und wieder hilft Bahnhofsvorsteher Imhof. "Sie haben Unterschlupf gesucht", berichtet Imhofs Tochter. Und da habe ihr Vater ihnen ein Versteck im Bahnhof Wildpark angeboten. "Oben ist eine Riesenbühne, da hatten wir Bettzeug und Matratzen raufgebracht. Und dann sind die gekommen, sind rauf, haben die Leiter hochgezogen und haben zugemacht." Das geht "Nacht für Nacht" so, schreiben die Eberles später. Es ist die Rettung.

Auch als die französischen Soldaten in Stuttgart einmarschieren, sitzen die Imhofs und die Eberles in der Pfaffendole, erinnert sich Gertrud Imhof*. "Und da sagt der Josef Eberle zu meiner Mutter: 'Haben Sie vielleicht ein weißes Tuch?' Und dann hat er das um einen Schaufelstiel gebunden, hat es um die Ecke gezeigt. Und dann war Ruhe; da konnten wir raus." Else Eberle habe ihren Ausweis gezeigt, einen Ausweis mit Judenstern. "Und dann musste man rauf laufen zum Haus, Hände hinter dem Kopf."

Gertrud Imhof, die heute 87-jährige Tochter von Sebastian Imhof, beim SWR-Interview im Bahnhof "Wildpark"
Gertrud Imhof, die heute 87-jährige Tochter von Sebastian Imhof, beim SWR-Interview im Bahnhof "Wildpark"

Josef Eberle wird zu einem der Herausgeber der Stuttgarter Zeitung

Später hätten die Franzosen das Haus durchsucht, nur sie, ihre Schwester und ihre Mutter waren zugegen. Im Keller haben sie Kisten und Koffer gefunden, die deutsche Soldaten zurückgelassen hatten. Angeblich ihre Habseligkeiten. Doch tatsächlich waren darin auch Waffen versteckt. "Und da haben sie uns rausgetrieben. Dann musste man an der Wand stehen. Die Gewehre waren auf uns gerichtet. Und im selben Moment kommt eine Männerstimme." Es war Josef Eberle, der auf Französisch geschrien habe, sie sollten aufhören, was sie dann auch taten. "Und der hat uns in dem Moment das Leben gerettet", sagt Gertrud Imhof mit zittriger Stimme. "Ich habe nicht mehr gegessen, ich habe nicht mehr geschlafen und vor allen Dingen nicht mehr gesprochen. Das hat eine ganze Zeit gedauert, bis ich wieder – in Anführungsstrichen – normal war. Und das begleitet mich eigentlich mein ganzes Leben."

Die amerikanische Militärregierung, die die Franzosen ablöste, holt Josef Eberle dann zu Radio Stuttgart und ernennt ihn im September 1945 zu einem der Herausgeber der Stuttgarter Zeitung – zusammen mit Karl Ackermann und Henry Bernhard.

Das SWR Fernsehen sendet die Dokumentation am Dienstag, 11.10.2022, um 23:30 Uhr. In der ARD-Mediathek ist das Video ebenfalls abrufbar - oder direkt hier:

*Auf ihren eigenen Wunsch hin nennen wir im Artikel nur den Mädchennamen der Tochter von Sebastian und Klara Imhof. 

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Hermann Abmayr