Tabea Zimmermann 2 (Foto: Marco Borggreve)

Lotte Thaler

»Mehr Klassische Musik von klein auf!«

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Die Königin der Bratsche ist Tabea Zimmermann sowieso. Dieses Jahr übernahm sie dazu zwei hohe Ämter im Reich der Musikinstitutionen. Im Sommer wurde sie in der Nachfolge von Peter Ruzicka Stiftungsratsvorsitzende der Ernst von Siemens Musikstiftung. Sie selbst hatte 2020 als erst dritte Frau den Siemens-Musikpreis erhalten, Deutschlands höchst dotierte musikalische Auszeichnung, nach Anne-Sophie Mutter (2008) und Rebecca Saunders (2019). Als Vorsitzende des Stiftungsrats trägt sie nun die finanzielle Verantwortung für die Musikstiftung mit. Seit Beginn dieses Jahres ist Tabea Zimmermann auch Präsidentin – der Hindemith-Stiftung im herrlich gelegenen schweizerischen Blonay oberhalb des Genfer Sees. Seit 2013, dem 50. Todestag des Komponisten, ist Tabea Zimmermann im Stiftungsrat dabei. Zu diesem Gedenkjahr hatte sie das komplette Bratschenwerk Hindemiths auf CD eingespielt – eine diskographische Liebesgabe: »Ich selbst bin schon seit langer Zeit von Hindemith als Komponist und Mensch begeistert und möchte dazu beitragen, dass sich sowohl Veranstalter als auch Musiker und Musikerinnen seiner Spielfreude nähern«, bekräftigte sie jüngst wieder im Gespräch. Denn was Johann Sebastian Bach für die Geiger, Beethoven für die Pianisten, ist der Viola spielende Komponist Hindemith für die Bratscher: der Hausgott. Für ihre Schwetzinger Konzertreihe hat sie sich ein Werk ausgesucht, das besonders stiefmütterlich behandelt wird: Des Todes Tod op. 23a, drei Lieder für Mezzosopran, zwei Bratschen und zwei Violoncelli, komponiert in nur drei Tagen im Januar 1922. Das Schattendasein dieses kurzen Zyklus’ liegt sicher nicht an der Musik – die Besetzung greift die dunkle Tönung der Gedichte suggestiv auf –, als vielmehr an den Gedichten selbst. Eduard Reinacher hatte sich von den Totentanz-Holzschnitten Hans Holbeins d.J. anregen lassen, aber schon Hindemith äußerte sich sehr zurückhaltend über die poetische Qualität der Texte. Giselher Schubert, der ehemalige Leiter des Hindemith-Instituts, bezeichnete ihre Vertonung deshalb als »Freundschaftsdienst«: Ihre »künstlerische Überhöhung« erhalten die Gedichte erst durch die Musik.

Wieviel kulturpolitische Einflussnahme ermöglichen Tabea Zimmermann ihre neuen Positionen? »Ich denke, dass man durch solche Ämter ein ganz anderes Gehör geschenkt bekommt, als ›nur‹ als Musikerin. Als Präsidentin muss ich mich für gute Rahmenbedingungen einsetzen, damit andere Musiker und Komponisten ihre Visionen ohne jegliche inhaltliche Einmischung entwickeln können.« Beizutragen, dass zeitgenössische Musik mit »abnehmenden Berührungsängsten« und »zunehmendem Interesse« gehört wird, sieht sie als ihre Hauptaufgabe an.

Für permanente Repertoire-Erweiterung einschließlich der Musik unserer Zeit kämpft Tabea Zimmermann als konzertierende Musikerin von Anbeginn ihrer Karriere: Mehr als fünfzig Werke hat sie uraufgeführt, die bedeutendsten Komponisten unserer Gegenwart haben für sie geschrieben. Nicht zuletzt György Ligeti, der ihr eine sechssätzige Sonate schenkte, nachdem er sie 1990 in einem Konzert des WDR gehört hatte und von der C-Saite ihres Instruments hingerissen war – »besonders kräftig und kernig, aber auch zart.« Erster und letzter Satz der Ligeti-Sonate sind ihr gewidmet; ersten und fünften hat sie in ihr Schwetzinger »Lamento«-Programm eingebaut, als kleine Gruppe von Soli im Wechsel mit zwei Stücken von György Kurtág. Dabei ist Ligetis Hora lunga, soviel wie ein gesungenes Volkslied, ausschließlich auf der tiefsten Saite, eben der C-Saite zu spielen – schließt aber in gefährlich hohen Flageolett-Tönen. Der fünfte Satz »Lamento« ist ein überwiegend »intenso e barbaro« mit herben Sekund- und Septklängen zu spielender Klagegesang mit permanent wechselnder Metrik. Und auch eine Entdeckung aus dem Jahr 1967 ist in ihrem diesjährigen Programm dabei: die Sonate für Flöte, Viola und Bratsche (1966) des französisch-polnischen Dirigenten, Komponisten und Lehrers René Leibowitz, dem glühenden Verfechter der Zwölftontechnik, dessen kompositorisches Werk erst jetzt langsam zur Kenntnis genommen wird. In der Besetzung orientiert sich Leibowitz allerdings an einem französischen Vorbild, an der Sonate von Claude Debussy, die im Konzert zuerst erklingen wird.

Mit ihrer Präsidentschaft der Hindemith-Stiftung kehrte Tabea Zimmermann auch als Professorin an die Musikhochschule in Frankfurt zurück. 2002 war sie von dort an die Hanns-Eisler-Musikhochschule in Berlin gegangen Außerdem unterrichtet sie auch an der Kronberg Academy, jenem Elite-Institut im Taunus, das von Frankfurt aus gesehen um die Ecke liegt.

Tabea Zimmermann bezeichnet sich selbst als »Mittelstimmentyp« und führt dies auf ihren familiären Hintergrund als viertes von sechs Kindern zurück sowie die Tatsache, dass sie von Anfang an Bratsche lernte, nicht zuerst Geige. Da hält sie es mit Robert Schumann, der in seinen musikalischen Hausregeln formulierte: »Singe fleißig im Chor mit, namentlich Mittelstimmen. Dies macht dich musikalisch.« Ihre Bratschenposition habe ihr die Chance gegeben, »viel mehr zu sehen als die oft virtuose Hauptstimme«, wie sie letztes Jahr als Artist-in-Residence beim Symphonieorchester des BR sagte, nämlich die nachdenkliche und auch melancholische Rolle der Bratsche. Deshalb begreift sie die Viola auch als »philosophisches Instrument«. Wie sie diese Philosophie vermittelt, lässt sich im zweiten ihrer Schwetzinger Konzerte am 15. Mai 2024 miterleben: dann wird die Meisterin zusammen mit drei Studierenden auftreten und in zwei Werken für vier Violen nicht nur ihrem Instrument, sondern auch dem Ensemblespiel als privilegierter musikalischer Ausdrucksform huldigen.

Tabea Zimmermann war Deutschlands jüngste Professorin und hat schon eine Phalanx herausragender Bratscher in ihre Karrieren entlassen. Und an ihrer Meinung hat sich bis heute nichts geändert: »Es kann gar nicht genug ausgebildete Musiker geben.« Sie schenkten Trost, brächten Menschen zusammen und entwickelten sich selbst anhand der Meisterwerke weiter, stünden somit für lebenslanges Lernen: »Ich plädiere für MEHR klassische Musik von klein auf, im Kindergarten, an den Schulen und in Altersheimen. Wir müssen ein Gegengewicht zur Vereinzelung schaffen und die Musik wieder in ihrer ursprünglichsten Art erleben!«

»Suche das Glück im Detail und teile es mit Anderen.«

Trost spenden: das wird sicherlich das erste Konzert am 10. Mai 2024, wenn sich Tabea Zimmermann und ihr langjähriger Cellopartner Guihen Queyras mit dem Belcea Quartet für die beiden Streichsextette von Johannes Brahms zusammentun. Im zweiten Sextett op. 36 ist der Trost sogar einkomponiert – als Selbsttrost oder sogar als Befreiungsakt. Zwei biografische Ereignisse spiegeln sich in diesem Werk: die gescheiterte Liebe zu der Sängerin Agathe von Siebold, was ihm freilich seine künstlerische Unabhängigkeit bewahrte, und der Tod seiner Mutter. Mit einer suchenden Wellenbewegung eröffnet die Bratsche den ersten Satz, später wird der Name der Geliebten drei Mal in den Tonbuchstaben a-g-a-h-e beschworen. Im ersten Sextett op. 18 hat die Bratsche ihren großen Auftritt, wenn sie die Schwermut des Variationsthemas im zweiten Satz anstimmt – ein »philosophischer« Diskurs in d-Moll. Und wenn das Publikum, eine der überschwänglichen Brahms-Melodien nachpfeifend oder nachsingend, den Konzertsaal verlassen wird, dann ist auch die »Mittelstimme« Tabea Zimmermann glücklich: »Als Musikerin möchte ich mein Publikum am liebsten nur nonverbal, direkt über die Musik und den Zauber der Klänge ansprechen.«

(gekürzte Fassung eines Essays aus der Saisonbroschüre der Schwetzinger Festspiele)

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SWR