François-Xavier Roth  (Foto: Marc Allen)

Rainer Peters

François-Xavier Roth und sein »Chamäleonorchester«

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Er war der letzte Chefdirigent des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg, der letzte in einer ruhmreichen Reihe von Orchesterleitern und -erziehern, die im Wesentlichen aus zwei Österreichern (Hans Rosbaud, Michael Gielen) und drei Franzosen (Ernest Bour, Sylvain Cambreling und eben ihm: François-Xavier Roth) bestand. Ihnen allen war (und ist) neben einem riesigen Repertoire gemeinsam, dass sie Musik für »unteilbar« halten, also das Aufführen neuer Musik ebenso selbstverständlich zu den Aufgaben von Orchestern und Dirigenten zählen wie die Pflege des Erbes, zumal wenn sie im Dienste des Rundfunks stehen und dessen Selbstverpflichtung zur Vermittlung von Kultur und Bildung ernst nehmen.

Wiewohl man der Liebe auf den ersten Blick zwischen Orchestermusikern und Dirigenten nicht trauen sollte, so war es doch überraschend, mit welch leuchtenden Augen die Musiker aus Freiburg und Baden-Baden nach den ersten Auftritten mit Roth 2010/11 dauerhaft umherliefen – überzeugt davon, den Chef fürs Leben gefunden zu haben: einen Dirigenten, der sie beim Erarbeiten seiner spannenden Programme zwar respektvoll behandelte, aber auch unmissverständlich wissen ließ, wo es künstlerisch lang geht. Als Opern- und Konzertchef, der zudem Principal Guest Conductor des London Symphony Orchestra und Leiter des Atelier Lyrique de Tourcoing ist und inzwischen Gast in den Konzertsälen der Welt, sollte Roth – so stellt man sich vor – ausgelastet sein.

Doch es gibt da noch ein Herzensprojekt, das ihn unentwegt beschäftigt, soeben sein 20-jähriges Bestehen gefeiert hat und mit Lob überhäuft wird: es heißt Les Siècles (Die Jahrhunderte) und ist ein von Roth gegründetes Ensemble und »projet utopique«, das – Achtung! – Musik des 17. bis 21. Jahrhunderts im Originalklang präsentiert: Es spielt also nicht nur Lully, Bach und Mozart auf alten Instrumenten, »historisch informiert« und in alter Stimmung, sondern rückte in der Musikgeschichte immer weiter vor bis – zunächst – zu Debussy, Ravel und den russischen Balletten Strawinskys – also Feuervogel, Petruschka und Le sacre du printemps –, deren Aufnahmen wegen ihrer authentischen Farben und ihrer Frische mit europäischen Schallplattenpreisen großzügig dekoriert wurden.

Noch mehr allerdings nähern sich Les Siècles unserer Gegenwart mit ihrem Mozart-Ligeti-Projekt, dessen Zustandekommen mit den weltweiten Feiern des 100. Geburtstags von György Ligeti verknüpft ist. Dieses musikalische Unternehmen, das nur im konzertanten Doppelpack seinen Sinn gänzlich erschließt, will weniger verborgene Gemeinsamkeiten dieser »zwei Giganten der Musikgeschichte« (Roth) aufdecken, als Jahrhunderte voneinander getrennte Musikstile in ihrer Disparatheit – »zwei Sätze von Instrumenten, zwei Stimmtöne, zwei unterschiedliche Klangvorstellungen« – aufeinander wirken lassen. Die Musiker und ihr Dirigent – »sie folgen mir total, wir sind eins!« – demonstrieren, wie pluralistisch ihr musikalisches Weltbild und ihre interpretatorischen Zuständigkeiten sind und setzen dabei leise Zweifel an der Notwendigkeit von stets getrennt agierenden Spezialensembles für Alte und Neue Musik in die Welt: Sie sind eben »Spezialisten für alles«.

Das Mozart-Ligeti-Projekt ist auch um zwei Soloinstrumente herum geplant, die an jedem der beiden Abende die Hauptrolle spielen. Die Dramaturgie sorgt hier für eine Art reziproker Balance: Während die Geigerin am ersten Abend vor der Pause Ligetis Violinkonzert und der Pianist nach der Pause Mozarts A-Dur-Konzert KV 488 (auf dem Hammerflügel) spielt, steht am zweiten Abend vor der Pause der Pianist mit Ligetis Klavierkonzert im Mittelpunkt und die Geigerin nach der Pause in Mozarts G-Dur-Konzert KV 216. Dass bei dieser Planung auch noch ein ausgereiftes Komponisten-Doppelporträt zustande kommt, ist natürlich kein Zufall: Die jeweils vier Werke zeigen Mozart als Verfasser erlesenster Gesellschaftskunst (Konzerte), festlich-feurig (»Haffner-Sinfonie«), kühn-leidenschaftlich (Sinfonie g-moll KV 550) – und Ligeti, den Folkloristen (Concerto Românesc), »Erfinder« der Mikropolyphonie (Kammerkonzert), polymetrischer Komplikationen mit Nähe zu afrikanischer Musik (Klavierkonzert) und Spektralklängen aus nichttemperierter Harmonik (Violinkonzert).

(gekürzte Fassung eines Essays aus der Saisonbroschüre der Schwetzinger Festspiele)

Konzerttermine

Orchesterkonzert Les Siècles I, François-Xavier Roth, Isabelle Faust & Alexander Melnikov

Les Siècles I, François-Xavier Roth, Isabelle Faust & Alexander Melnikov

Orchesterkonzert Les Siècles II, François-Xavier Roth, Isabelle Faust & Jean-Frédéric Neuburger

Les Siècles II, François-Xavier Roth, Isabelle Faust & Jean-Frédéric Neuburger

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SWR