Nico and the Navigators (Foto: Piet Truhlar)

Andreas Hillger

NICO AND THE NAVIGATORS

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Das Versprechen ist zu schön, um wahr zu sein: Wenn NICO AND THE NAVIGATORS in ihrem neuen Stück für die Schwetzinger SWR Festspiele »The whole Truth about Lies« enthüllen wollen, dann ist bereits in dieser Ankündigung ein unerreichbares Ziel gesetzt. Denn natürlich lässt sich die ganze Wahrheit über Lügen niemals ergründen – womit zugleich die ganze Wahrheit über Lügen gesagt wäre. So führt also schon der Titel der navigatorischen Unternehmung zu jenem Zirkelschluss, den die Philosophen seit der Antike als »Paradoxon des Epimenides« kennen. Die darin formulierte Aussage lautet ursprünglich: »Alle Kreter sind Lügner.« Da der Urheber des Satzes aber selbst von der Insel Kreta stammte, kann diese Feststellung unmöglich wahr sein – was wiederum die Wahrheit der Behauptung bestätigen würde. Es ist zum Verrücktwerden … und eben darum die beste Voraussetzung für eine Arbeit von Nicola Hümpel und ihrem Ensemble.

Seit seiner Gründung vor mehr als 25 Jahren bearbeitet das Team mit Künstlerinnen und Künstlern aus den Bereichen Musik, Performance, Tanz und Schauspiel in wechselnder Besetzung immer wieder scheinbar unerschöpfliche Themen, um daraus Erkenntnis, Hoffnung und Humor zu schöpfen. Zuletzt ging es etwa um Zwang und Freiheit, um Fleisch und Geist oder um das Böse und den Rausch: übergroße und oft abstrakte Begriffe, deren Spuren in musikalischen, literarischen und choreografischen Fragmenten gesucht und gefunden werden. In einem schwer erklärlichen, mit der Zeit immer weiter verfeinerten Prozess der »angeleiteten Improvisation« fügen sich die Splitter zu Mosaiken zusammen, als Bindemittel und Dichtstoff dienen die Biografien der Mitwirkenden. Und am Ende stehen Abende, die aufklärerisch und alchimistisch, assoziativ und anarchisch sein können.

Und nun also – ausgerechnet – die Wahrheit, die ganze Wahrheit, nichts als die Wahrheit? Dass das Thema hochaktuell ist, steht außer Frage: Nicola Hümpel nennt die Verunsicherung als prägendes Gefühl der Gegenwart: »Unser Urvertrauen ist auf Null.« Wenn das bewusste Verschweigen oder die offene Lüge in politischen Debatten zum probaten Mittel wird, wenn jeder Liebesbrief von einer Künstlichen Intelligenz geschrieben werden kann und offenbare Falschaussagen zu »Alternativen Fakten« umgedeutet werden, ist eine grundsätzliche Verabredung im menschlichen Zusammenleben außer Kraft gesetzt.

Aber ist diese Erkenntnis ein Anlass zur Verzweiflung? Oder kann man auch auf den Trümmern der zerstörten Gewissheiten musizieren und tanzen? Ist nicht das Theater, auf dem seit jeher einerseits behauptet und andererseits geglaubt wird, die Heimat der von allen Beteiligten akzeptierten Lüge – und damit der Ort, an dem uns ein wahrerer Mensch begegnet? Lernen wir in barocken Arien und bittersüßen Popsongs, in Gedichten und Tragödien nicht viel über unsere wahren Gefühle, obwohl uns hier – frei nach Shakespeare – »mit falscher Stimme Lieder falscher Liebe« gesungen werden? Man wird sehen … in The whole Truth about Lies, dem auch ein Zitat von Theodor W. Adorno den Weg weisen kann: »Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.«

(gekürzte Fassung eines Essays aus der Saisonbroschüre der Schwetzinger Festspiele)

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SWR