Kirchenfenster: Jesus betet am Ölberg (Foto: IMAGO, IMAGO / UIG)

Großes Werk der Karwoche

Bachs Matthäus-Passion neu entdecken: Musikalische und liturgische Hintergründe

Stand
AUTOR/IN
Reinhard Goebel
ONLINEFASSUNG
Dominic Konrad

Über 150 Minuten Aufführungsdauer, Solisten, zwei Chöre und zwei Orchester: Unter Bach Werken ist die Matthäus-Passion das umfangreichste und am üppigsten besetzte. Die Passion, die am 11. April 1727 in der Leipziger Thomaskirche uraufgeführt wurde, gilt Musik-Historikern als ein Höhepunkt protestantischer Kirchenmusik. Dirigent Reinhard Goebel erklärt das Werk.

Dissonant am Anfang, grandioser Schluss: Der Eingangschor

Als Johann Sebastian Bach die Matthäus-Passion 1727 in der Thomaskirche erstaufführt, weiß er: Er benötigt den vollständigen musikalischen Apparatus am höchsten Gedenktag der evangelischen Kirche.

In den Jahren zuvor hatte er seine Johannes-Passion zur Aufführung gebracht. Entgegen dem sehr klaren Bild der am Golgata-Hügel zusammenlaufenden Menschen von Jerusalem zu Beginn der Johannes-Passion wird es bei der Matthäus-Passion am Anfang direkt dissonant.

Audio herunterladen (17,6 MB | MP3)

Das Orchester beginnt in e-Moll, das Orchestervorspiel ist sehr lang. Als Hörerschaft wissen wir nicht, wo es hingehen soll, erklärt Dirigent Reinhard Goebel. Dann setzt der erste Chor mit einem Einwurf an: „Kommt ihr Töchter, helft mir klagen.“ Die Aufforderung hägt im Raum, bis der zweite Chor entgegnet:

Sehet! — Wen? — Den Bräutigam! /
Seht ihn! — Wie? — Als wie ein Lamm. /
Sehet! — Was? — Seht die Geduld, /
Seht! — Wohin? — Auf unsre Schuld /
Sehet ihn aus Lieb und Huld /
Holz zum Kreuze selber tragen.

Die Chöre, die Bach für die Uraufführung zur Verfügung standen, waren nicht so dimensioniert wie heute: Drei Chöre à zwölf Knaben und ein vierter, der — so Goebel — nur zum Mitsingen taugte. Die Sängerknaben standen an der Brüstung der Emporen und sangen in die Kirche hinein. Die Orchester waren hinter ihnen positioniert.

Ein dritter Chor wirft dann weiter ein: „Oh Lamm Gottes unschuldig, / Am Stamm des Kreuzes geschlachtet.“ In der Thomaskirche stand dieser Chor wohl abseits der Emporen.

Das Ende wird schließlich ganz grandios, so Goebel. Der Chor stimmt unisono zu einem riesigen Crescendo an.

Alte Olivenbäume im Garten Gethsemane in Jerusalem (Foto: IMAGO, IMAGO / Pond5 Images)
Hier soll sich die Ölberg-Szene, der Beginn der Leiden Christi, abgespielt haben: Der Garten Gethsemane am Rande der Altstadt von Jerusalem.

Dramaturgisch ineinandergreifende Kettenglieder: Die Ölberg-Szene

Im Garten Getsemaneh, am Ölberg, begibt sich Jesus ins Zwiegespräch mit Gott, während seine Jünger schlafen. Bach verbindet die dramaturgische Ebenen der Passion-Schlüsselszene gekonnt mit der musikalischen, urteilt Reinhard Goebel. Die Formen, Texte und kompositorischen Kunstgriffe der Matthäus-Passion passen seiner Meinung wie Kettenglieder perfekt ineinander.

Jesu Worte werden in den Rezitativen von einem vierstimmigen Streichersatz hinterfangen. Seine Rede wird durch lang ausgehaltene Töne umrahmt. Deshalb muss man sich immer fragen, was uns der Komponist sagen will, wenn sich die Akkorde in Viertel, Achtel oder sogar Sechzehntel auflösen, so der Dirigent.

Audio herunterladen (19,7 MB | MP3)

Beachtlich ist vor allem die Bewegung der Stimmen bei Jesu Einwurf: „Ich bete.“ Alle vier Stimmen bewegen sich gegeneinander und formen jeweils einen konkaven oder konvexen Bogen. Bach hat hier etwas für den Connaisseur eingebaut, erkennt Goebel: Als geschickter Komponist bedeutet er mit den Noten um Jesu Worte ein Paar betender Hände.

Jesu Trauer und Angst zeigt uns die Matthäus-Passion nicht nur im Text. Durch vibrierende Streicherakkorder versinnbildlicht Bach das Zittern und Zaudern seiner Seele.

Thema Musik Choräle in Sepia – Bachs Matthäuspassion in historischen Aufnahmen

Diese Aufnahmen aus den späten 1930er- bis in die 1960er-Jahre dokumentieren eine völlig entschwundene, geradezu totgeschwiegene Bach-Ästhetik.

SWR2 Thema Musik SWR2

Der Betrug des Petrus: „Erbarme dich-Arie“

Jesus sagt es voraus: „Ehe der Hahn krähen wird, wirst du mich dreimal verleugnen.“ Und so geschieht es natürlich: Petrus ruft aus: „Ich kenne des Menschen nicht.“

Reinhard Goebel erklärt: Die Musik nimmt den Betrug Petri auf. Aus dem Fis- landet Petrus am Ende der Phrase in einem Cis-Dur-Akkord. Der falsche Klang spiegelt die Falschheit seiner Aussage wider.

Audio herunterladen (19 MB | MP3)

Es folgt ohne Arioso direkt die „Erbarme dich-Arie“, der Diamant im zweiten Teil der Passion, wie Reinhard Goebel findet. Es ist auch die erste Arie für die Streicher des erstes Ensembles. Ihre Aufgabe war es bislang, die Worte Jesu zu umrahmen.

Die Arie ist Petri persönliche Klage. Die Solo-Geige kann sich über dem Orchester frei entwickeln. Besonders interessant: Die Auswirkungen der Lüge des Jüngers werden durch die Bassmelodie vorangekündigt. Der Bass spielt bereits die ersten Noten des späteren „O Haupt voll Blut und Wunden“. Das, so Goebel, werde gerne überhört. Es sei auch nur ein Einwurf von der Seite.

Goldener Wetterhahn auf dem Kirchturm der protestantischen Kirche von Ottersheim bei Landau (Foto: IMAGO, IMAGO / epd)
Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnet haben. Der Hahn auf dem Kirchtürm erinnert an diese Prophezeihung Jesu.

Bach greift auf das Modernste zurück, was ihm die Kirche erlaubt: Schluss-Szene

Wie ihr Schwesterwerk, die Johannes-Passion, endet die Matthäus-Passion mit einer Chaconne. Es ist das modernste an Kompositionskunst, das sich Bach in der Kirche erlauben konnte, erklärt Reinhard Goebel. Bach habe sich generell in der Passion durchgeschlängelt an der Grenze dessen, was musikalisch als schicklich galt.

In der Dramatik orientiert sich der Komponist an der französischen Oper. Zum Schluss lässt er alle Solisten nochmals auftreten: Beginnend mit dem Bass ziehen uns die Einwürfe der Solisten in die himmlischen Höhen empor. Und ihnen antwortet immer wieder der Chor:

Nun ist der Herr zur Ruh gebracht — Mein Jesu, gute Nacht! /
Die Müh ist aus, die unsre Sünden ihm gemacht. — Mein Jesu, gute Nacht! /
O selige Gebeine, Seht, wie ich euch mit Buß und Reu beweine, /
Daß euch mein Fall in solche Not gebracht! —Mein Jesu, gute Nacht! /
Habt lebenslang vor euer Leiden tausend Dank, /
Daß ihr mein Seelenheil so wert geacht’. —Mein Jesu, gute Nacht!

Audio herunterladen (20,6 MB | MP3)

Auch das Orchester übernimmt eine rhetorische Figur, so Goebel. Denn das zweite Orchester legt Jesus musikalisch hinab ins Grab. Das Stück endet mit der Chaconne und ihrer gleichbleibenden Bassfigur. Harmonisch bettet Bach den Heiland zur Ruhe. Dann rufen wieder die Töchter Zions, die das Werk eröffneten:

Wir setzen uns mit Tränen nieder /
Und rufen dir im Grabe zu /
Ruhe sanfte, sanfte ruh!

Sir Simon Rattle dirigiert die Matthäus-Passion

Festival Europäische Kirchenmusik Schwäbisch Gmünd Bach rekonstruiert: Das Barockensemble Il Gardellino mit dem Passionsoratorium

Der Cembalist, Dirigent und Bachforscher Alexander Grychtolik präsentiert mit dem belgischen Orchester Il Gardellino ein Passionsoratorium, das Bach 1725 plante und wahrscheinlich nie zur vollständigen Aufführung brachte. Teile davon sind allerdings in seiner Matthäuspassion erhalten, die nur wenige Jahre später entstand. In einer Rekonstruktion und Ergänzung zu einem vollständigen Werk versucht Alexander Grychtolik nachzuvollziehen, wie das vollständige Passionsoratorium geklungen haben könnte. Im Unterschied zu den bekannten Bach-Passionen steht hier die menschliche Anteilnahme am Leiden Jesu im Mittelpunkt.
Miriam Feuersinger, Sopran (Zion)
Jana Pieters, Sopran (Maria)
William Shelton, Alt (Seele)
Daniel Johannsen, Tenor (Evangelist)
Jonathan Sells, Bass (Petrus)
Tiemo Wang, Bass (Jesus)
Barockensemble Il Gardellino
Leitung: Alexander Grychtolik
Johann Sebastian Bach:
Passionsoratorium BWV Anh. 169, als Fragment rekonstruiert und vervollständigt von Alexander Grychtolik
(Konzert vom 5. August 2023 in der Augustinuskirche Schwäbisch Gmünd)

SWR2 Abendkonzert SWR2

Gespräch Die Fußspuren von Bach: Nikolaus Matthes über die neukomponierte Markuspassion

Die Matthäus- und Johannespassion von Johann Sebastian Bach ist bekannt, aber gibt es auch eine Markuspassion? Nun gibt es auf jeden Fall eine Markuspassion mit dem Text von damals, aber neu komponiert von Komponist Nikolaus Matthes.

SWR2 Treffpunkt Klassik SWR2

Mehr über Johann Sebastian Bach

Zum Geburtstag von Johann Sebastian Bach Bach-Experte Michael Maul beantwortet Fragen zu Johann Sebastian Bach

Dieses Jahr jährt sich der Geburtstag von Johann Sebastian Bach zum 339. Mal. Das ist zwar kein rundes Jubiläum aber dennoch Grund genug, um Ihre Fragen zu einem der bekanntesten Komponisten der Musikgeschichte zu Beantworten. Bachforscher Michael Maul stellt bei SWR2 seine Expertise bereit.

SWR2 Treffpunkt Klassik SWR2

Musikgespräch Nur dritte Wahl vor 300 Jahren: Bach wird Thomaskantor

Heute vor 300 Jahren führt Johann Sebastian Bach seine erste für Leipzig komponierte Kantate auf. Bach-Experte Andreas Bomba über den Alltag von Bach und dessen Motivation, nach Leipzig zu ziehen.

SWR2 Treffpunkt Klassik SWR2

Stand
AUTOR/IN
Reinhard Goebel
ONLINEFASSUNG
Dominic Konrad