Wie kann menschliches Leid vermittelt werden?

Essay von Carolin Emcke über die Ethik der Erzählens: „Was wahr ist. Über Gewalt und Klima“

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AUTOR/IN
Eva Marburg

In ihrem Essay „Was wahr ist. Über Gewalt und Klima“ denkt die Philosophin und Autorin Carolin Emcke über das Erzählen als ethische Pflicht nach. Ein humanistisches Manifest gegen die vorherrschende Kultur der Oberfläche und der vorschnellen Gewissheiten. 

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Warum erzählen wir, müssen wir erzählen?

Carolin Emcke beginnt in ihrem beeindruckenden Text ganz am Anfang der Geschichte, wenn man so will, denn sie fragt: Warum erzählen wir, warum erzählt der Mensch, und warum muss er manchmal erzählen?

Wie wird Erzählen zur Pflicht angesichts von global eskalierender Gewalt und der aktuell größten Herausforderung, die uns alle bedroht – der Klimakatastrophe? Für sie ist das Erzählen über Gewalt und Klima eine menschliche, eine ethische Aufgabe – denn sie fragt, wer wären wir, wenn wir es nicht täten?

Wer wären wir, wenn wir das geschehen ließen, wenn dies wahr wäre, ohne dass wir es beschrieben? Nicht zu schreiben hieße: sich einverstanden zu erklären mit der Gewalt, zu schweigen hieße: das, was geschehen ist, als normal, als üblich zu behaupten.

Zur Wahrheit vordringen – wie geht das überhaupt?

Der Essay „Was wahr ist“ ist zunächst eine erschütternd genaue und kritische Selbstbefragung als Autorin. In zwei Teilen, die dem Erzählen über Gewalt und Klima  gewidmet sind, misst Emcke die Vorbedingungen des Schreibens aus. Denn wie geht das überhaupt: zur Wahrheit vordringen, die manchmal abstoßend, verstörend, belastend sein kann? 

Und wie ist das, was wir für „wahr“ nehmen gesellschaftlich, kulturell und ideologisch vorgeprägt, gelernt, strukturiert? Dieses kritische Wissen müssen Erzählende in sich tragen, schreibt Emcke, denn in der Konfrontation mit Gewalt und Klima habe man es auch mit Dingen zu tun, die nicht vorstellbar sind.  

Es gibt einen kognitiven Widerstand, die Ordnung des Terrors zu verstehen, es ist unbegreiflich, dass solches Leid, solches Unrecht wahr sein könnte. Es ist mir mehrfach passiert, dass mir in Gegenden der Gewalt etwas erzählt wurde, was so jenseits aller ethischen Erwartung lag, in seiner Grausamkeit so jenseits alles Vorstellbaren, dass ich es nicht glauben konnte.

Das Schreiben unterstellt, dass wir einander verstehen können

Daraus erwächst für Emcke die ethische Pflicht des Erzählens als eine Übersetzungskunst – das, was wahr ist, lässt sich in gewisser Weise auch nur gemeinsam erfahren. Für sie liegt im Erzählen die begründete Hoffnung, dass wir einander verstehen können:

Das Schreiben über Krieg und Gewalt wird getragen von einer Hoffnung, an der es schreibend mitzuwirken sucht: Das Schreiben unterstellt ein universales Wir. Es unterstellt, dass die Erfahrungen anderer verstehbar sind, dass sie vorstellbar sind, dass sie übersetzbar sind, es unterstellt die Möglichkeit der Empathie.

An dieser Stelle treffen sich im Erzählen auch Wahrheit und Utopie. Im Kontext von Gewalt gelte es, diese als etwas Gewordenes zu erzählen, wie sie sagt, und den sogenannten Opfern die Würde zurückzugeben, indem auch erzählt wird, wer sie vorher waren. 

Utopie als Transportmittel der Sehnsucht

Im Erzählen über das Klima brauche es ein „einladendes Denken“ – eines, das die Klimakatastrophe für wahr hält und gleichzeitig die Möglichkeit aufmacht, unsere Lebensweise positiv auf den Prüfstand zu stellen.

Schreiben und Erzählen über das Klima ist die Chance zum Entwerfen einer neuen Karte – zum Entdecken, zum Neudenken, zum Neuentwerfen: „Das Erläutern, das Beschreiben dessen, was gelingen kann, die Frage wie wir leben wollen, wie eine nachhaltige Lebensform immer auch eine soziale, eine gerechte, eine demokratische sein kann und muss. Es braucht eine Utopie als Horizont, als Aussicht, als Transportmittel der Sehnsucht.“

Der Essay „Was wahr ist“ ist ein zutiefst humanistisches Manifest – gegen die vorherrschende Kultur der Oberfläche; gegen vorschnelle Gewissheiten und falsche Urteile. Der Text zeigt auf bewegende Weise, dass wir uns an „das was wahr ist“ halten müssen, wenn wir das Weltvertrauen nicht verlieren wollen. 

Buchkritik Carolin Emcke - Journal. Tagebuch in Zeiten der Pandemie

Carolin Emcke berichtet in einem persönlichen Tagebuch von Begegnungen, Erlebnissen und Gedanken in Zeiten der Covid-Pandemie. So eröffnet sie Leserinnen und Lesern neue Perspektiven auf die gesellschaftlichen und politischen Ereignisse der Gegenwart.
Rezension von Judith Reinbold.
S. Fischer Verlag, 272 Seiten, 21 Euro
ISBN 978-3-10-397094-4

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