Buch der Woche

Deniz Utlu - Gegen Morgen

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AUTOR/IN
Miriam Zeh

In Deniz Utlus zweitem Roman „Gegen Morgen“ hadert ein junger, aber eben nicht mehr blutjunger Berliner mit dem Erwachsenenwerden, mit Verantwortung und Verzicht.

Dabei hat der 1983 in Hannover geborene Autor einen so eigenen, nämlich schwebenden und doch welthaltigen Ton gefunden, dass man sich nur allzu gern im Hadern und Träumen seines Erzählers verliert.

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Utlu war Mitbegründer des Kulturmagazins "freitext"

Deniz Utlu ist bereits einige Jahre im literarischen Feld aktiv. 2003 war er Mitbegründer des Kulturmagazins freitext, das bis 2013 bestand. Utlu schrieb für Zeitungen, verfasste einige Theaterstücke, die in Berlin im Ballhaus Naunynstraße und im Gorki-Theater aufgeführt wurden.

Und im Jahr 2014 erschien der Debütroman dieses Autors, der sich immer wieder auch politisch äußert und engagiert. In „Die Ungehaltenen“ erzählte Deniz Ultu von zwei Generationen türkischer Gastarbeiter in Berlin.

Autor Deniz Utlu (Foto: Pressestelle, Heike Steinweg / Suhrkamp Verlag)
Autor Deniz Utlu

Ein vorhersehbares Leben würde alles einfacher machen

Auch Utlus zweites Buch ist ein Berlinroman. Hier steht ein Protagonist Anfang dreißig im Mittelpunkt, der ebenso wie der Autor selbst Volkswirtschaft in Berlin studiert hat.

Rein theoretisch könnte alles ganz einfach sein. Wenn die Existenzialökonomie recht hat, ließe sich das Leben mit wenigen Formeln berechnen, gar vorhersagen. Die Kosten-Nutzen-Kalkulation würde auf wenigen Grundannahmen beruhen.

Auf der Suche nach einer Formel für verpasste Lebenswendungen

Erstens: Im Wettbewerb ums gute Leben treffen Individuen mehr oder weniger ökonomische Einzelentscheidungen. Und zweitens: jede Entscheidung für etwas ist zugleich eine Entscheidung gegen etwas anderes.

Es muss eine Formel für falsch getroffene Entscheidungen geben. Eine Formel gegen die Sinnlosigkeit. Ich notiere: Die Kosten des Verzichts ergeben sich aus den Entscheidungen für etwas in Einheiten der oft unbewusst und implizit getroffenen Entscheidungen gegen etwas – sie sind der Preis des Versäumnisses.

Der 32jährige Kara ist dieser Formel für verpasste Lebenswendungen auf der Spur. Eigentlich sollte der studierte Volkswirt für seine Versicherungsfirma die Kosten eines Lebens berechnen. Doch Kara interessierte sich schon im Studium mehr für die existenzialistischen als für die betriebswirtschaftlichen Erkenntnisse seines Faches.

Das Leben ist mehr als blankes Überleben

Der Mensch braucht im Leben schließlich mehr als eine Wohnung, ein Einkommen, mehr als die Summe aller belegbaren Kosten, für die man Rechnungen, Kassenbons und Quittungen sammeln kann.

Gleichzeitig hadert der Wahlberliner selbst mit den Entscheidungen, die er in seinem jungen, aber eben nicht mehr blutjungen Leben getroffen hat.

Ab einem gewissen Alter kannst du dir keine andere Wahlmöglichkeit mehr zurückkaufen. Es ist, als würde ein Auktionator zu deinem dreißigsten Geburtstag drei Mal heftig mit einem Holzhammer auf deinen Kopf schlagen: Verkauft. Du bist jetzt, was du bist. Sprichst so und so französisch, so und so spanisch, bist so und so gebildet in Geschichte, Biologie, Philosophie, hast diesen Humor […]. Die Entscheidungen sind getroffen. Jetzt trag die Konsequenzen.

Trennungsangst blockiert den Protagonisten

Karas Konsequenzen sind seine Freundin Nadia, die gerade nach Frankfurt am Main gezogen ist, für eine Anstellung an der Universität. Sie will ein Kind, bevor sie 35 ist. Kara will keins von beidem, weder die Freundin noch das Kind.

Wochenlang schiebt er den versprochenen Besuch in Frankfurt auf, kann sich zur Trennung nicht durchringen. Als er schließlich ins Flugzeug steigt, gibt ihm das Wetter kurz Hoffnung, der unangenehmen Konfrontation doch noch entgehen zu können.

Über Hessen kommt es zu heftigen Turbulenzen. Während einige Passagiere in helle Panik verfallen, kann Ich-Erzähler Kara nicht leugnen, dass ihm ein Absturz beinahe gelegen käme.

Woher soll man wissen, wann ein Flugzeug wirklich droht abzustürzen und wann nicht? Ich jedenfalls wäre bereit gewesen, bereit zum Absturz, es hätte sich nicht angefühlt wie der Abbruch eines Lebens, sondern wie der Abbruch eines Abbruchs, kurz bevor alles zu Ende geht.

Der Leser bleibt stets im Ungewissen

Das Flugzeug stürzt nicht ab. Kara Reise geht weiter, aber nicht weiter nach Frankfurt. Deniz Utlu lässt seine Hauptfigur in „Gegen Morgen“ durch Gegenwart, Erinnerung und Traum gleiten. Überaus kunstvoll fließen Zeiten und Wirklichkeiten ineinander.

Geschickt gesetzte Ellipsen durchbrechen immer wieder den melancholischen Gedankenstrom und Kara schwebt, er schlafwandelt in dichten, poetischen Beschreibungen durch den Roman. Dabei kann sich auch der Leser nie sicher sein.

Auf seiner Suche landet Kara immer wieder bei Ramón

Hat der junge Mann gerade wirklich, nach all den Jahren, seine Mutter in Hannover besucht? Seine Mutter, die ihn allein großzog, die wie Kara nachts nicht mehr schlafen kann und Granatapfelkerne in den Salat schneidet?

Auf seiner Flucht vor Nadia und vor den Konsequenzen seiner versäumten Optionen sucht Kara nach verschiedenen Menschen, die ihm abhandengekommen sind. Immer wieder landet er bei Ramón.

In der gemeinsamen Studentenbude von Kara und seinem besten Freund Vince hing Ramón ständig herum, schnorrte sich durch. Er war ein Sonderling, ein schmächtiges Hemd mit kurzgeschorenen Haaren, auffallend unmodisch gekleidet.

War es Freundschaft oder doch eher Koexistenz?

Das Studium ließ er schleifen, las philosophische Texte, während Vince und Kara für Mathematik- oder Managementklausuren lernten. Nichts im Leben schien Ramón etwas zu bedeuten. Nur die Freundschaft zu Vince und Kara pflegt er auf seine ganz eigene Art.

Selten fühlte es sich so an, als würden wir gemeinsame Zeit verbringen. Ramón war da, Vince war da, ich war da, aber wir taten, was wir taten, nebeneinanderher. Manchmal benutzte Ramón mich als Empfänger seiner Monologe, aber ich blieb austauschbar. Nur in wenigen Momenten unterhielten wir uns wirklich, lachten zusammen, das war dann doch: gemeinsam Zeit verbringen.

Mit Ramón hat Deniz Utlu die komplexeste Figur seines Romans geschaffen. Ich-Erzähler Kara arbeitet sich an ihm ab. Ob Ramón, der bei einer grausamen Mutter mit zahlreichen Geschwistern von verschiedenen Männern aufwuchs, nicht doch ein wenig mehr freundschaftliche Nachsicht verdient hätte.

Jahre später fragt sich Kara, ob er sich damals richtig verhalten hat

Ob er Ramón nicht doch noch ein weiteres Mal hätte helfen sollen, sein Leben zu ordnen, sein Studium endlich abzuschließen oder einen Job zu finden. Das fragt sich Kara nun, Jahre nachdem Ramón von heute auf morgen aus seinem Leben verschwand. Damals hatte er den Verlust kaum bemerkt. So viele Dinge waren damals wichtiger.

Auf seiner Suche nach den Kosten und Nutzen seiner Lebensentscheidungen, begegnet Kara dem kauzigen Freund neu. Dabei bringt Ramon eine interessante neue Perspektive in Karas Kalkulation, den vielleicht einzigen Ausweg aus dem unerbittlichen Wettbewerb ums Glück.

Das asketische Ideal, der Verzicht, habe verschiedene Bedeutungen, beginnt Ramón mit raunender, aber sanfter Stimme, eine Bedeutung liege in der Betrachtung des Schönen. Wir würden Verzicht üben durch Kontemplation von Schönheit, nur so lasse sich die Tortur ertragen, diese Folter durch Verlangen, das in dieser Welt immer verstärkt, aber niemals vollständig befriedigt wird.

Ein raffinierter, schwermütiger Roman

An einigen Stellen nehmen die wirtschaftlichen oder religionsphilosophischen Diskurse womöglich Überhand in diesem raffinierten, schwermütigen Roman. Und nicht durch alle Seiten trägt das dichte, anachronistisch gearbeitete Konstrukt den Leser von selbst.

Doch Deniz Utlu hat in „Gegen Morgen“ einen so eigenen, einen poetischen, einen schwebenden und doch welthaltigen Ton gefunden, dass man sich nur allzu gern im Hadern und Träumen seines Erzählers verliert.

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Miriam Zeh