Schlacht von Ypern 1915: Giftgaseinsatz im Ersten Weltkrieg
Viele Menschen in Europa denken beim Stichwort Chemiewaffen an Gasmasken, Schützengräben, Erster Weltkrieg. Damals wird Giftgas zum ersten Mal in großem Maßstab eingesetzt. Bei der Schlacht von Ypern 1915 entlassen die Deutschen tonnenweise Chlorgas in die Luft. Der Wind trägt das Gas bis in die gegnerischen Schützengräben. Hunderte alliierte Soldaten sterben. Es folgt ein chemisches Wettrüsten zwischen Deutschland und den Alliierten.
Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs werden chemische Waffen zum Tabu. Im Zweiten Weltkrieg kommen sie auf dem Schlachtfeld nicht zum Einsatz. Doch im Lauf des 20. Jahrhunderts wird in vielen Ländern weiter geforscht und produziert. Immer giftiger werden die Stoffe: Auf Senfgas folgen Tabun und VX. In den 1960er-Jahren setzen die USA das Entlaubungsmittel Agent Orange in Vietnam ein. Das Land kämpft bis heute mit den Spätfolgen. SWR2 Wissen berichtet darüber in der Folge: "Gifteinsatz im Vietnamkrieg".
Chemiewaffeneinsatz im Irak und in Syrien
In den 1980er-Jahren ordnet Saddam Hussein den Einsatz von Sarin an gegen iranische Truppen und gegen Kurden im eigenen Land. Im Sommer 2012 gibt das Assad-Regime zu, was westliche Geheimdienste längst wissen: Syrien besitzt Chemiewaffen und ist bereit, sie einzusetzen.
Nach den verheerenden Angriffen mit Sarin im August 2013 zwingt die internationale Gemeinschaft Syrien zur Abrüstung. Der Großteil der gemeldeten Bestände syrischer Chemiewaffen wird vernichtet.
Doch was folgt, ist nicht weniger grausam: Das Assad-Regime beginnt, die Bevölkerung mit improvisierten Chlorgas-Bomben zu terrorisieren. Chlor ist nicht verboten. Es wird zum Beispiel zur Wasserreinigung benötigt. In hohen Dosen ist es jedoch giftig und beschädigt Lungen und Atemwege.
Assad-Regime setzt legal erhältliches Chlor ein
Bei mehr als 90 Prozent aller chemischen Angriffe setzte das Assad-Regime legal erhältliches Chlor ein. Das ergab eine Untersuchung des Global Public Policy Institute, kurz GPPI. Die Denkfabrik hat die umfassendste Datenbank zu den Chemiewaffen-Angriffen in Syrien zusammengestellt.
Entsprechend heißt ein Podcast, den Katharina Nachbar und ihr Team vom Global Public Policy Institute zum Thema produziert haben: "Nowhere To Hide" – Es gibt kein Entkommen, in englischer und arabischer Fassung.
Russland änderte seine Einstellung zum Einsatz von Chemiewaffen in Syrien
Zu Beginn des Bürgerkriegs in Syrien übte Russland zunächst Druck auf das Assad-Regime aus. Der Kreml bewegte Syrien dazu, der Chemiewaffenkonvention beizutreten und arbeitete bei der folgenden Abrüstung eng mit westlichen Staaten zusammen.
Doch wo immer möglich, blockiert Russland mittlerweile internationale Versuche, Assad für seine Kriegsverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen.
Nowitschok: Russland setzt Nervengift gegen Skripal und Nawalny ein
Im März 2018 sorgte Russland indirekt dafür, dass die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) einen neuen Stoff auf die Liste verbotener Substanzen setzte. Nach dem Anschlag in Salisbury auf den ehemaligen Agenten Sergei Skripal und seine Tochter identifizieren Chemiewaffen-Experten das Nervengift Nowitschok.
Wirkstoffe der Nowitschok-Familie wurden während des Kalten Kriegs von der Sowjetunion entwickelt. Die Substanzen können in flüssiger Form eingesetzt werden und sind schon in kleinen Mengen tödlich. Sie überreizen das Nervensystem und lösen Krämpfe, Atemnot, Erbrechen und Lähmung aus. Im August 2020 folgt ein weiterer Giftanschlag: Der russische Oppositionelle Alexej Nawalny wird in Russland mit Nowitschok vergiftet, kann sich aber erholen. Im Februar 2024 stirbt Nawalny in einem russichen Straflager in Sibirien.
Der Fall Nawalny – Welche Folgen hat der Tod des Kreml-Kritikers?
Auch Nordkorea setzte bereits Gift ein
Neben Syrien und Russland ist auch Nordkorea mit dem Einsatz von Chemischen Kampfstoffen aufgefallen. Auf den Halbbruder von Machthaber Kim-Jong-Un wurde 2017 ein Anschlag mit dem Gift VX verübt.
Befürchtung, dass Russland in der Ukraine Chemiewaffen einsetzt
Weltweit als größere Bedrohung wird aktuell aber Russland wahrgenommen. Das Land lässt die internationale Öffentlichkeit über seine chemischen Kampfstoffe im Unklaren und nährt dadurch die Befürchtung, dass der Kreml sie in der Ukraine einsetzen könnte. Patrick Bolder glaubt jedoch nicht, dass Russland in der Ukraine bald Chemiewaffen einsetzt. Bolder war 40 Jahre Berufssoldat bei der niederländischen Luftwaffe. Heute arbeitet er als Analyst beim The Hague Center for Strategic Studies, einem Think-Tank, der sich vor allem mit sicherheitspolitischen Fragen beschäftigt.
Chemiewaffen bleiben eine Bedrohung. Dafür sorgen auch neue technische Entwicklungen, die den Kampf gegen Chemiewaffen in Zukunft noch viel schwieriger machen könnten.
KI entwirft im Experiment neue chemische Kampfstoffe
Sean Ekins und sein Team suchen normalerweise nach Stoffen, die Menschen heilen können. Doch im Rahmen einer Schweizer Abrüstungskonferenz für biologische und chemische Waffen wurde Ekins Firma Collaboration’s Pharmaceuticals um ein Experiment gebeten: künstliche Intelligenz nach Entwürfen für chemische Kampfstoffe zu befragen.
40.000 Moleküle entwarf die Maschine auf diese Anfrage. Nicht alle konnten Ekins und Kollegen prüfen. Doch viele der Stoffe, sollte man sie herstellen, sind hochgiftig.
Das Experiment hatte damit mindestens drei Probleme aufgezeigt.
- Ekins Kollege nutzte für die Übung einfach erhältliches technisches Equipment und ließ den Code auf seinem Rechner laufen.
- Die Maschine hatte Ideen für neue chemische Waffen entwickelt, die auf keiner Verbotsliste stehen und die sich möglicherweise schwerer aufspüren ließen.
- Es könnten mithilfe von KI neue Wege gefunden werden, um bereits bekannte hochgiftige Stoffe herzustellen.
Denn nicht nur Chemiewaffen werden kontrolliert. Auch die Zutaten werden von Aufsichtsbehörden beobachtet. Würden die Zutaten ausgetauscht, fiele dieses Warnsystem weg. Und die jüngste Vergangenheit zeigt: Chemiewaffen bleiben eine Bedrohung. Darum ist es weiter wichtig dafür zu kämpfen, die Bedrohung so klein wie nur irgend möglich zu halten.
SWR 2023/2024