Buchkritik

Salman Rushdie – Victory City

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AUTOR/IN
Cornelia Zetsche

Kurz vor dem Messerattentat im August 2022 beendete Salman Rushdie seinen neuen Roman. „Victory City“ ist ein fulminante Gegenerzählung zum Narrativ von Fundamentalisten und Religionswächtern aller Zeiten.

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„Die ganze Stadt, Menschen aller Art und jeden Alters, am selben Tag der Erde entsprossen, solche Blumen haben keine Seele, sie wissen nicht, wer sie sind, denn in Wahrheit sind sie nichts. Diese Wahrheit aber ist kaum hinnehmbar. () Fiktion ist die Lösung.“

Es ist wie im Märchen. Eine Stadt wächst aus felsigem Boden, ein Palast, ein Tempel, Lehmhütten. Aus Samenkörnern wuchern Menschen wie Schlafwandler. Lebendig werden sie erst, als Pampa ihnen ihre Geschichten einflüstert und damit ihre Identität. Pampas eigene Geschichte ist die eines doppelten Traumas, seit sie ihre Mutter bei der Witwenverbrennung verglühen sah; Pampa Kampana, ein Waisenkind, missbraucht von einem unheiligen Heiligen, aber von Göttin Parvati mit Mut, Zauber- und Schöpfungskraft versehen. Sie ist Gründerin und Chronistin eines Reiches, verehrt, bewundert, dann verstoßen. In einem Tonkrug versteckt sie die Geschichte von Bisnagas Blüte und Untergang, Krieg und Tod.

„Der König, der seinen Palast in der bluttriefenden Leder- und Metallrüstung des Schlachtfeldes betrat, war ein Mann, den Fragen wie ein Mückenschwarm umschwirrten. Selbst Pampa Kampana kannte die Antworten darauf nicht.“

„Wir sind erzählende Wesen wir leben in Geschichten, weil auch unser Lebenszyklus Anfang, Mitte und Ende hat. Menschen, Städte, Länder haben Geschichten, sie definieren uns und werden zu Literatur“,

sagte Rushdie im Gespräch vor zwei Jahren, beschwört auch diesmal farbmächtige Bilder und zaubert eine Fülle von Geschichten aus dem Hut der Geschichte. Wo heute das südindische Hampi als Weltkulturerbe gefeiert wird, stand im Mittelalter Vijayanagara, die Hauptstadt des letzten Hindureiches. Als ein Fremder den Namen nicht aussprechen kann, wird das historische Vijayanagara im Roman zum sagenumwobenen Bisnaga. In diesem, in Pampas Reich werden die Schwachen stark, beißt der Hase den Hund, blühen Kunst und Wissenschaft, sprechen die Götter zu Menschen, und Papageien eilen als Boten durch die Lüfte. Geschlecht, Religion, Herkunft sind nichts Hierarchisches mehr. 

 „Die Fiktion kann so mächtig sein wie die Historie … Dies war das Paradox der geflüsterten Geschichten. Sie waren zwar nur erfunden, aber sie schufen eine Wahrheit und ließen eine Stadt und eine Armee mit der reichen Vielfalt nichtfiktionaler, in der realen Welt tief verwurzelten Menschen wirklich werden.“

Salman Rushdie: „I was just lucky to be brought up in a milieu where these wonderful stories, fables, mytho-logies, fairy tales and surreal fiction () was given to me. And it was my first gift as a person growing up in India, (DARÜBER  that was, what I began with. And it's never ceased to inspire me, really. You know, I think more than anything else that is the material out of which my work has come.)“

Nach seinen Amerika-Romanen führt Salman Rushdie zurück ins multireligiöse, polyphone Bombay seiner Kindheit voller Mythen und Fabeln, ein Geschenk - bis heute. 

Rushdie ist Historiker und zugleich fasziniert von Indiens Mythen und Nationalepen, seine Inspiration. „Victory City“ liest sich wie ein Spiegel des Mahabharata und des Ramayana. Mit feiner Ironie flicht er aktuelle Bezüge in den historischen Roman: Rosa Affen zerstören den Wald; Kriege hinterlassen wüstes Land; Demonstranten protestieren mit leeren Blättern wie heute in China; Identität ist die große Frage und bringt, verbunden mit Religion, Angst und Schrecken. Pampa Kampana, die verstoßene, geblendete Seherin, muss zuschauen, wie sich die Menschen, ihre Geschöpfe, ins Verderben stürzen.

„Ich bin eine Karte der Zeit. Fast zwei Jahrhunderte trage ich in meinem Kopf mit mir herum und werde noch ein weiteres halbes Jahrhundert hinzufügen. () Und so wie du sehen kannst, wie das Hier mit dem Da verbunden ist, so nehme ich wahr, wie das Damals mit dem Heute zusammenhängt.“

 „Victory City“ ist eine Hommage an starke Frauen; an hybride Kulturen als Quelle von Neuem und an die multiple Essenz Indiens und von Rushdie selbst; Ein Weltbürger zwischen Bombay England und New York, wo Rushdie ein ungeschütztes, aber freies Leben suchte.

Nun erzählt er ein Märchen von Machtmissbrauch und religiösem Wahn, inszeniert fantastische Tableaus, lässt Tiere sprechen, Kriegerinnen die Bäume hochlaufen, und Pampa hat magische Kräfte. Wie seine Heldin, zeigt Rushdie sichtlich Vergnügen an der Erfindung immer neuer Figuren und Welten. Aber verglichen mit seinen kühnen Romanen zuvor, mit den postmodernen Verwirrspielen, die wie Feuerwerke zünden, ist „Victory City“ eine stille Glut; kein Paukenschlag, wie die „Mitternachtskinder“, keine bissige Satire wie „Golden House“, kein multikultureller Wirbel wie „Die satanischen Verse“.

Als habe Rushdie den Messerangriff geahnt, ist dieser Roman eher versöhnlich. Ein fabelhaftes Historiendrama, brillant übersetzt von Bernhard Robben, chronologisch erzählt, aber eher zahm als spöttisch; eine Warnung zwar, Religion und Identität zusammenzudenken, aber fast altersmilde angesichts heute regierender Hindufundamentalisten, die Indiens islamisches Erbe, also auch Rushdies muslimische Herkunft, systematisch ausradieren, die Gärten und Städte wie Bombay umbenennen, Muslime zu Bürgern zweiter Klasse machen, Hass und Gewalt säen.

Vor der Kulisse des letzten Hindureiches, das an seinen Fundamentalisten zugrunde geht, feiert Rushdie die Blüte hybrider Kulturen. „Victory City“, die Nussschale Bisnaga ist eine Gegenerzählung zu Indiens regierender hindufanatischer BJP, zu allen Monokulturen und Religionswächtern der Welt. Rushdies Antwort ist sein Glaube an die Macht des Erzählens, an den Triumph des Wortes, ans Lesen und die Literatur als Annäherung an die Wahrheit.

Salman Rushdie: „For people who read literature, read fiction, is a journey back towards the truth, because  the purpose of literature is the truth.“

Gespräch 29.9.2022 - Internationale Lesung aus den Büchern Salman Rushdies

Am 12. August wurde der Schriftsteller Salman Rushdie bei einem Attentat im Bundesstaat New York lebensgefährlich verletzt. Sein Werk steht wie kaum ein zweites für die Freiheit einer Offenen Gesellschaft. Am 29. September ruft das Internationale Literaturfestival Berlin zu einer weltweiten Lesung aus Rushdies Büchern auf. Ulrich Schreiber, Direktor des ILB, über die Bedeutung Salman Rushdies.

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Gespräch Eva Menasse: „Salman Rushdie ist ein Schriftsteller-Held“

Eva Menasse, Autorin und Sprecherin des neu gegründeten PEN Berlin, spricht in SWR2 über das Attentat auf Salman Rushdie. Sie ist mit dem Schriftsteller Rushdie bekannt und schätzt ihn als „einen der weltbesten lebenden Autoren“.

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