Buchkritik

Birgit Birnbacher - Ich an meiner Seite

Stand
Autor/in
Carsten Otte

Kann man nach 26 Monaten Knast noch eine Wohnung mieten? Und einen Job bekommen? Die österreichische Autorin Birgit Birnbacher lässt es den 22-jährigen Arthur versuchen.

Die Bachmann-Preisträgerin weiß, wovon sie erzählt, arbeitete sie doch selbst viele Jahre lang als Sozialarbeiterin. Mit ihrer Milieustudie ist ihr ein beeindruckendes Stück Literatur gelungen. Bewährungshilfe auf literarisch!

Über Umwege kam die Autorin zum Schreiben

Der Lebenslauf der 1985 im österreichischen Schwarzach geborenen Schriftstellerin Birgit Birnbacher liest sich alles andere als geradlinig.

Birnbacher brach ihre Schulausbildung ab, machte eine Lehre und arbeitete im Rahmen der Entwicklungshilfe in Äthiopien und Indien. Später holte sie ihr Abitur nach und studierte Soziologie.

Birgit Birnbacher, Gewinnerin des Ingeborg-Bachmann-Preises 2019
Autorin Birgit Birnbacher

Von der Theorie ging es wieder in die Praxis der Sozialarbeit, und tatsächlich prägen diese beruflichen Erfahrungen auch ihre literarischen Texte.

2019 gewann Birnbacher den renommierten Bachmannpreis

Birnbacher erzählt in ihrer vielfach ausgezeichneten Prosa von jenen Menschen, die „ganz unten“ sind oder zu sein scheinen. Im vergangenen Jahr gewann sie beim Klagenfurter Wettlesen den renommierten Bachmannpreis.

Ihr neuer Roman „Ich an meiner Seite“ ist keineswegs die lange Version dieser preisgekrönten Geschichte, sondern ein eigenständiges Werk, in dem die Autorin ihren nahezu „soziologischen“ Stil weiterentwickelt und über einen jungen Mann schreibt, der nach einer Gefängnisstrafe um eine zweite Chance kämpft.

Nach über zwei Jahren im Gefängnis sucht Arthur Anschluss in der Gesellschaft

Wieder in Freiheit. Das sagt sich so leicht. 26 Monate hat Arthur im Gefängnis verbracht, und kaum ist er entlassen, steht der junge Mann wieder vor verschlossenen Türen.

Jobs gibt es nur mit einem lückenlosen Lebenslauf. Aber wer will schon einen ehemaligen Häftling einstellen? Ohne Arbeit gibt es kein regelmäßiges Einkommen und damit keinen Mietvertrag.

Ein unkonventioneller Therapeut hat einen Lösungsansatz

Wahrscheinlich würde Arthur, der gerade mal 22 Jahre alte Antiheld, nach kurzer Zeit wieder kriminell werden und erneut im Knast landen, wenn es nicht die Bewährungshilfe, ein Wohnprojekt für Haftentlassene und den unkonventionellen Therapeuten Konstantin Vogl gäbe. 

Sein Ansatz war damals vollkommen neu. Was er machte, war anders als alles, was bisher gemacht worden war. Um Theorie scherte er sich immer nur exakt so viel, wie es eben unbedingt notwendig war. Den ganzen Rest bestritt er mit Versuch und Irrtum, mit Intuition und Inbrunst, mit dem Willen, wirklich etwas zu bewegen.

Eine „Optimalversion“ des Schützlings soll ihn vor einem Rückfall bewahren

Zum Ansatz, den Vogl entwickelt hat, gehört das sogenannte „Schwarzsprechen“. Arthur soll regelmäßig Tonaufnahmen an den Therapeuten schicken, mit Erzählungen von sich, er soll hineinschauen in die biographische Dunkelheit.

Im Kontrast zu Arthurs Anekdoten möchte der Therapeut dann eine „Optimalversion“ seines Schützlings entwickeln, eine „Hauptfigur“ an Arthurs Seite, die ihm in Krisen Orientierung bieten kann.

Sie sollen sich über diese Figur dermaßen klar werden, dass Sie sie in brenzligen Situationen ‚spielen‘ können, in sie hineinschlüpfen. Sich über etwas hinwegretten, indem Sie so tun, als wären Sie diese Version von sich, die bessere, die weichgezeichnete, die klügere. Und deshalb nicht straffällig werden.

Therapeutische Theorie wird kunstvoll in Literatur überführt

Birgit Birnbachers Roman mit dem so treffenden Titel „Ich an meiner Seite“ hält zahlreiche bittere Pointen bereit, etwa über die Sinnlosigkeit von Gefängnisstrafen und die Mühen der sogenannten Resozialisierung.

Doch die Autorin schreibt nicht nur klug und kenntnisreich über das System der Bewährungshilfe, sie überführt die therapeutische Theorie auch auf beeindruckend kunstvolle Weise in Literatur.

Allein die spiegelbildliche Anlage und Entwicklung der Figuren überzeugen. Während sich Arthur immer mehr jener fiktiven Hauptfigur annähert, also dem optimalen Ich an seiner Seite, degradiert sich Dr. Vogl zur Nebenfigur im eigenen Leben – als wolle er beweisen, dass seine Therapie auch in die umgekehrte Richtung funktioniert.

Arthur ist skeptisch, macht bei der Therapie aber mit

Arthur ist zwar skeptisch, was er von all dem halten soll, aber er hat auch keine andere Wahl, als bei der „Hauptfigurentherapie“ mitzumachen.

Er beginnt mit den Aufnahmen, die für den Roman eine wichtige Erzählebene, quasi eine authentische Audioquelle darstellen.

Eins, zwei, check. Funktioniert das überhaupt? Arthur Galleij für Doktor Vogl, Aufnahme eins oder so, check. (…) Das Aufwachsen also, haben Sie gesagt. Darüber soll ich sprechen. Dann sagen wir 1988. (…) Viel weiß ich eigentlich nicht aus dieser Zeit. So einzelne Geschichten, mit denen man später seine Herkunft erzählt.

Die Kindheit Arthurs ist von Verlusten geprägt

Birnbacher kontrastiert Arthurs Aufzeichnungen mit Passagen einer allwissenden Erzählerin, die ihre Figuren behutsam, aber immer auch mit gewisser Radikalität führt.

Arthur wächst ohne leiblichen Vater auf, und Georg, der neue Freund von Mutter Marianne, spricht im Grunde nie mit Arthur und seinem Bruder Klaus, sondern immer nur über sie, man könnte auch sagen: an ihnen vorbei.

Kleine und große Verluste prägen Kindheit und Jugend der Protagonisten: Georg und Marianne beschließen, nach Spanien auszuwandern und ein Hospiz zu gründen.

Fern der Heimat macht sich ein Gefühl der Fremdheit in Arthur breit

Das Geschäft mit den Sterbenskranken bedeutet wirtschaftliche Sicherheit für die beiden, für Arthur ist der Wegzug von Freunden vor allem mit einem Gefühl der Fremdheit verbunden.

Fremd heißen, daran muss er sich erst gewöhnen. Dass die Andalusier drei Versuche benötigen, seinen Namen auszusprechen, und wie er sich dann fühlt. (…) Dabei hat Arthur Galleij ja auch in Österreich immer fremd geheißen, aber das war eben doch noch einmal anders, weil in Österreich andere noch viel fremder waren als er.

Bruder Klaus hält es mit dem fremden Georg jedenfalls nicht mehr aus. Bald verlässt er die Familie, und auch Arthur versucht, eigene Wege zu gehen, lässt sich auf eine kuriose Dreiecksbeziehung ein, die durch einen tödlichen Unfall aufgelöst wird.

Die Familie lässt den orientierungslosen Sohn im Stich

Weil die Mutter sich nicht um den Sohn kümmert, muss Arthur seine Sinn- und Existenzkrise allein bewältigen.

Er flieht vor den traumatischen Erlebnissen, kehrt zurück nach Österreich und landet in Wien, allerdings ohne einen Plan, das Leben in der Großstadt zu finanzieren.

Als die letzten Reserven aufgebraucht sind und der Hunger ihn quält, sieht er keinen anderen Ausweg mehr, als sich auf illegale Weise zu beschaffen, was ihm fehlt: nämlich Geld zum Überleben.

Die Straftaten bleiben für den Leser lange geheim

Erst spät im Roman erfahren wir, welche Straftaten Arthur begeht, und daher sollen diese tatsächlich interessanten Details nicht verraten werden – zumal der Text von einer geschickten Spannungsdramaturgie lebt.

Die Autorin wechselt ständig Schauplätze und Zeitebenen, wobei in jedem Kapitel zunächst nur Bruchstücke aus Arthurs Vergangenheit preisgegeben werden, die Birnbacher erst deutlich später um weitere Momentaufnahmen ergänzt.

Gerade haben wir noch übers Arthurs Therapiegespräch geschmunzelt, lesen wir auch schon eine drastische Gefängnisszene.

Arthur ist auf einen Schlag mit der Faust gefasst und bekommt einen Tritt in die Eier, sackt zusammen, da sind die anderen schon da. Tritte gegen seinen Schädel (…). Arthur bemerkt mit überraschender Klarheit, dass irgendwann etwas geschieht, dass etwas nicht mehr hält. Dann hört er, dass es in seinem Schädelinneren knackst.

Der harte Gefängnisalltag beeinflusst auch Arthurs Leben in Freiheit

Die Gewalt im Gefängnis wird Arthur noch verfolgen, als er längst nicht mehr eingesperrt ist. Auch die beste Hauptfigurentherapie kann den demütigenden Horror in der Haft eben nicht ungeschehen machen.

Schweißausbrüche und Selbstzweifel sind die Folge. Arthurs einziges Glück ist eine todkranke Frau namens Grazetta, die Arthur noch im elterlichen Hospiz in Spanien kennengelernt hat.

Sie ist nach Wien gezogen, um die letzten Lebenstage im eleganten Hotel Bristol zu verbringen. Grazetta kennt sich mit Hauptrollen bestens aus, da sie mal erfolgreiche Schauspielerin war.

Jetzt fungiert sie für Arthur als Ersatzmutter, unterstützt ihn mit Rat und Tat, selbst wenn sie kaum noch sprechen kann.

Autorin Birnbacher hält bis zur letzten Seite Überraschungen für den Leser bereit

Diese Lichtgestalt auf der finsteren Bühne des Lebens wird Arthur nicht nur ein wertvolles Kuvert hinterlassen, sondern ihm auch das Gefühl geben, dass nach einer missglückten Vorstellung durchaus eine bessere folgen kann, dass Auftritt und Abgang mit Würde zu gestalten sind und manchmal auch das Theaterstück umgeschrieben werden muss.

Mit dieser starken Botschaft könnte der Roman „Ich an meiner Seite“ enden, aber Birgit Birnbacher ist eine Künstlerin der literarischen Volte, und so überrascht sie bis zur letzten Seite, indem sie kurz vor Schluss noch einen Erzählfaden aufnimmt, der alle Muster im Textgewebe noch einmal durcheinanderbringt.

Der Roman ist eine überzeugende Anklage gegen die Gesellschaft

Es bleibt also vieles offen, nicht nur für Arthur, sondern auch für die Interpretation seiner Geschichte.

Ob es nämlich vor allem Zufälle sind, die ein Leben mal scheitern und mal erfolgreich enden lassen, oder ob es am Willen jedes einzeln liegt, lässt sich nicht entscheiden.

Gesellschaftliche Verhältnisse aber, in denen ein Absturz wie der von Arthur möglich ist, sind weder human noch frei zu nennen.

So entwickelt sich gerade aus dem nüchternen Tonfall, aus dem soziologisch-literarischen Blick der Autorin eine überzeugende Anklage gegen eine Gesellschaft, die aus Menschen vor allem funktionierende Wirtschaftssubjekte machen will.

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