Im März wird Uwe Timm 84 Jahre alt. Erstaunlicherweise hat der vielseitige Autor den Büchner-Preis noch nicht bekommen, obwohl er mit seinen Romanen und Erzählungen das bundesrepublikanische Leben, die Zeitgeschichte, die geistigen Strömungen und Wendungen so genau und beeindruckend mitgeschrieben hat wie sonst nur wenige Schriftsteller.
„Alle meine Geister“ ist ein Bildungsroman erster Güte und trotzdem ein ungewöhnliches Buch, denn der Lernprozess verläuft auf Umwegen, allerdings nur auf den ersten Blick: Im Sommer 1945 zieht Timms Familie nach Hamburg; der Vater eröffnet eine Kürschnerei, obwohl er den Umgang mit Pelzen nicht gelernt hat. Erfolg hat er dennoch, jedenfalls vorerst.
In das Buch eingewoben ist eine ungemein interessante Geschichte des Pelzhandwerks. Uwe Timm beginnt als Teenager eine Lehre in der Kürschnerei Levermann, und von diesem Augenblick an wird die präzise Arbeit mit Pelzen, mit Nähten, mit Übergängen zu einem Bild für die handwerklich saubere und genaue Arbeit mit der Sprache, die später Timms Beruf werden sollte.
Bis dahin dauert es aber. Die Lektüren werden ihm zur Sucht, auch während der Arbeitszeit; vor allem aber rettet Timm nach dem Abschluss seiner Lehre gemeinsam mit der Mutter den heruntergewirtschafteten Laden des kurz zuvor gestorbenen Vaters. „Alle meine Geister“ ist auch eine Erweckungsgeschichte: Politik, Jazz, Frauen, Aufbruchsstimmung, Abschied von den 1950er-Jahren und die Hinwendung zur Literatur und Philosophie – all das erzählt Timm auf denkbar ruhige, souveräne Weise. Und selbstverständlich handwerklich perfekt.