Kommentar

Ohne Taktgefühl: Berliner Staatsoper startet mit Anna Netrebko in die neue Saison

Stand
AUTOR/IN
Albrecht Selge

Anna Netrebko wurde als Protagonistin für die Eröffnungspremiere der Berliner Staatsoper im Herbst angekündigt. Schießt sich das neue Führungsteam mit Elisabeth Sobotka und Christian Thielemann damit ein Eigentor? Albrecht Selge vermisst in seinem Kommentar Taktgefühl.

Audio herunterladen (5,5 MB | MP3)

Stets im Visier: Russische Künstler

Unsere Solidarität mit der überfallenen Ukraine ist bedenklich erschlafft. Manche Menschen in Deutschland sind sogar regelrecht genervt vom Leid der Ukrainer. Das ist obszön. 

Andere, die es gut meinen mit der Ukraine, engagieren sich vehement auf dem Gebiet, das für sie erreichbar scheint. Das sind nicht die Sphäre des Militärischen, des Politischen oder des Wirtschaftlichen, sondern der Bereich der Kultur – genauer gesagt: russischer Künstler.

Im Fokus des Zorns: Anna Netrebko

Allen voran richtet sich ihre Energie, manchmal auch ihr Zorn, gegen die berühmte Sängerin Anna Netrebko, die seit langem in Österreich lebt, sich aber früher bereitwillig vor den Karren der Kreml-Propaganda spannen ließ.

Nach Russlands Überfall auf die Ukraine äußerte sie sich teilweise wirr. Aber letztlich sagte sie, bevor sie wieder ins Schweigen fiel, den entscheidenden Satz: „Ich verurteile den Krieg gegen die Ukraine ausdrücklich.“ 

Audio herunterladen (6,5 MB | MP3)

Netrebko hat sich letztendlich klar distanziert

Ich bleibe bei meiner Meinung von damals: Das muss ausreichen, wenn wir keine Gesellschaft von Inquisitoren werden wollen. Frühere Naivität allein, vielleicht auch Dummheit sind keine untilgbare Schuld.

Und ihre Karrierebrücken in Russland scheint die schweigsam gewordene Netrebko komplett abgebrochen zu haben, tritt dort im Gegensatz zu anderen überhaupt nicht mehr auf.

Trotzdem zu viel roter Teppich?

Trotzdem könnte die Diskussion jetzt wieder hochkochen, weil der Weltstar zur Saisoneröffnung der Berliner Staatsoper Unter den Linden auftreten wird. Mehr roter Teppich geht nicht für das rote Tuch Netrebko! 

Mehr roter Teppich geht nicht für das rote Tuch Netrebko! 

Im schweizerischen Luzern verzichtet man im Juni auf einen solchen Auftritt – wegen der gleichzeitig stattfinden Friedenskonferenz für die Ukraine. Da geht es auch um öffentliche Sicherheit.

Netrebko als Sündenbock nutzt der Ukraine wenig

Der Linden-Fall aber ist keine Frage von Sicherheit oder auch Moral, sondern von Takt. Man darf da schon kritisch fragen, ob das taktvoll ist von Elisabeth Sobotka, der neuen Staatsopern-Intendantin. Auftreten ja, aber muss es derart exponiert sein? Muss man Öl ins Feuer der Gefühle gießen?

Elisabeth Sobotka
Gießt die neue Intendantin der Berliner Staatsoper, Elisabeth Sobotka, unnötig Öl ins Feuer der Gefühle?

Aber seien wir ehrlich, die blutende Ukraine hat nichts von Spiegelfechtereien, Ersatzhandlungen und Verzettelung auf Nebenschauplätzen. Netrebko als weiblicher Sündenbock macht nur uns selbst ein billiges gutes Gewissen. 

Ablenkung von anderen Problemen

Was die Staatsoper Unter den Linden angeht, kommt aber der erwartbare Aufruhr vielleicht ganz recht? Nicht unbedingt als PR-Masche. Sondern weil er ablenkt von anderen Fragen, die viel stärker die künstlerische Substanz des Hauses betreffen: Der neue Generalmusikdirekter Christian Thielemann dirigiert nämlich in seinem ersten Amtsjahr sage und schreibe eine einzige Premiere. 

Der neue Generalmusikdirekter Christian Thielemann dirigiert in seinem ersten Amtsjahr sage und schreibe eine einzige Premiere. 

Der Titel des Werks, mit dem Anna Netrebko zur Saisoneröffnung auftritt, wirkt dabei übrigens fast wie eine Anspielung auf die Sängerin selbst: Es ist „Die schweigsame Frau“ von Richard Strauss.

Mehr zu Anna Netrebko

Wiesbaden

Russland-Ukraine-Konflikt erreicht Staatstheater Ukrainische Künstler sagen Auftritt bei Maifestspielen in Wiesbaden ab

Der Streit um einen Auftritt der russischen Opernsängerin Anna Netrebko bei den Internationalen Maifestspielen in Wiesbaden hat die Politik erreicht. Das Staatstheater Wiesbaden wirft der Ukraine politische Einflussnahme vor.

Am Vormittag SWR4 Rheinland-Pfalz

Stuttgart

Fehlende Distanz zu Putin Russische Star-Sopranistin Anna Netrebko darf nicht in Stuttgart auftreten

Im September wollte die russische Opernsängerin Anna Netrebko in Stuttgart auftreten. Doch aus dem Gastspiel wird nichts. Das bestätigt das baden-württembergische Finanzministerium.

Zur Person Die Sopranistin Anna Netrebko feiert ihren 50. Geburtstag

Ihre Stimme ist unvergleichlich und füllt die größten Opernhäuser der Welt. Auch ihre Karriere hat mittlerweile historische Dimensionen angenommen, mit allen möglichen Preisen und Auszeichnungen. Am 18. September feiert Publikums- und Medienliebling Anna Netrebko ihren 50. Geburtstag.

SWR2 Zur Person SWR2

Mehr zu Christian Thielemann

Kommentar Christian Thielemanns neuer Posten in Berlin: Eine Kuschelkammer für eine konservative Parallelgesellschaft

Christian Thielemann wird neuer Chef der Staatskapelle Berlin. Die Entscheidung wird heftig kritisiert, doch die Prämissen stimmen nicht ganz – findet Hannah Schmidt in ihrem Kommentar.

SWR2 Treffpunkt Klassik SWR2

Stand
AUTOR/IN
Albrecht Selge