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Suizide – Wie lassen sie sich verhindern?

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Martina Keller
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Jochen Paulus
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Lorraine Ring
Candy Sauer

Es gibt wirksame Therapien und Hilfsangebote, aber nationale Präventionsprogramme für besonders gefährdete Personen fehlen: Männer, Ältere und Jüngere sowie psychisch Kranke und Alkoholabhängige.

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Mehr als 9.000 Menschen nehmen sich jedes Jahr in Deutschland das Leben. Dabei mangelt es nicht an Ideen oder Konzepten für die Suizidprävention. Therapien, Apps und Beratungskonzepte, auch für spezielle Risikogruppen, sind verfügbar. Diese Hilfsangebote beruhen bislang jedoch häufig auf Einzelinitiativen von Fachleuten. Im Gegensatz zu anderen Ländern hat Deutschland kein staatlich gefördertes Präventionsprogramm. Während eine Blaupause für eine bundesweite, flächendeckende Suizidprävention bereits seit 2021 existiert, fehlt bisher der politische Wille zur Umsetzung.

Beispiel Frankfurt: schlechte sozioökonomische Kenndaten erhöhen Suizidrisiko

Psychiatrische Erkrankungen wie Borderline-Persönlichkeitsstörung, Alkoholabhängigkeit oder Depression sind mit einem hohen Suizidrisiko verbunden. Bei Männern und bei Älteren ist das Risiko ebenfalls erhöht.

Während psychiatrische Erkrankungen wie etwa Depressionen relativ gleichmäßig über das Stadtgebiet verteilt sind, gilt das für andere Faktoren nicht. Prof. Andreas Reif, Leiter des "Frankfurter Projekts zur Prävention von Suiziden mittels Evidenz-basierter Maßnahmen", kurz FraPPE, hat das für die Stadt Frankfurt/Main festgestellt: "Je dichter die Bebauung, je enger die Wohnfläche, je schlechter die sozioökonomischen Kenndaten, umso höher ist das Risiko für Suizidversuche", sagt der Leiter der psychiatrischen Universitätsklinik Frankfurt. Unter sozioökonomischen Kenndaten versteht man etwa das Einkommen, Partnerschaftsverlust oder Vereinsamung.

Das staatlich geförderte Suizidpräventionsprogramm FraPPE lief von 2017 bis 2020/21 und hatte das Ziel, die Zahl der Suizide in Frankfurt um ein Drittel zu reduzieren. Zwei Jahre nach dem Ende von FraPPE steht jedoch fest: Die Initiatoren haben ihr Ziel nicht erreicht. Noch immer nehmen sich in Frankfurt jedes Jahr rund 90 Menschen das Leben – so viele wie vor dem Projekt. Das kann zum einen daran liegen, dass genauer hingeschaut wurde und mehr Suizide entdeckt werden konnten.  

Dass die Suizidrate gleichgeblieben ist, muss aber noch einen anderen Grund haben. Andreas Reif vermutet, dass sich die Forscher zu sehr auf Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen konzentriert haben. Solche Störungen sind zwar eine wichtige Ursache, aber eben nur ein Risikofaktor. In einem Folgeprojekt möchte man daher dort besonders aktiv sein, wo die soziale Not am größten ist. In diesen Stadtvierteln soll es dann niedrigschwellige präventive Angebote geben, so Reif.

Bewährte Konzepte der Suizidprävention

Suizidprävention ist komplex. Man muss auf verschiedenen Ebenen ansetzen. Das wirksamste Mittel der Vorbeugung gegen Suizid ist, den Zugang zu Suizidmethoden zu versperren. Medikamente können in kleinen Packungen verkauft werden, sodass die Folgen nicht lebensgefährlich sind, wenn jemand alle Tabletten auf einmal schluckt. Die Zahl der Schusswaffen in Wohnungen lässt sich mit Verboten reduzieren.

Einzelnen Betroffenen kann mit erprobten Therapiengut geholfen werden. Laien können mit der betroffenen Person ein Gespräch suchen, bei dem sie verändertes Verhalten ansprechen und sich nach der psychischen Verfassung erkundigen. Damit sollen Betroffene ermutigt werden, sich an Fachleute zu wenden.

Neue Konzepte für Suizidprävention bei Männern

Die Suizidrate ist bei Männern dreimal so hoch wie bei Frauen. Deshalb hat Birgit Wagner, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Medical School Berlin, die Website "Männer stärken" mitentwickelt, die Männern in der Krise Aufklärung und Hilfe bietet. Der Forschungsverbund Men Access, zu dem die Psychologin gehört, hat nicht nur die Website konzipiert. Er hat auch ein Präventionsangebot entwickelt, das sich an das Umfeld der Männer wendet. An Partnerinnen, Familie, Kollegen. Das E-Learning-Programm erklärt, warum Männer besonders gefährdet sind und bei welchen Äußerungen Angehörige hellhörig werden sollten. Es bietet außerdem fiktive Dialoge als Beispiel, wie ein präventives Gespräch verlaufen kann.

LifeStep-App soll in unmittelbaren Gefahrensituationen helfen

Betroffene denken vor einer suizidalen Handlung in der Regel ein bis drei Stunden intensiv an Selbsttötung. Diese Frist lässt sich für die Prävention nutzen. Gerd Wagner, Privatdozent am Universitätsklinikum Jena, hat zu diesem Zweck die LifeStep-App entwickelt. Wer ein Android-Smartphone oder ein iPhone besitzt, kann sie installieren. Die App bietet nicht nur viele allgemeine Informationen für Menschen in Krisen. Sie bietet Suizidgefährdeten auch Hinweise, wie sie erkennen können, dass es wieder losgeht.

Wissenschaftlich überprüft wurde die App noch nicht. Sie verwendet aber erprobte Strategien, von denen erwartet wird, dass diese auch in der App funktionieren sollen. Sie soll außerdem durch die Nutzung von Smartwatches ergänzt werden, die den physiologischen Zustand überwachen und mitteilen, wann eine Person gestresst ist, so Gerd Wagner. Das soll Betroffenen helfen zu erkennen, wann eine Krise sich zuspitzt, wenn andere Hilfsmittel dafür nicht ausreichen.

Ältere Menschen sind Hochrisikogruppe für Selbstmorde

Alte Menschen – Männer wie Frauen – haben das höchste Risiko, sich das Leben zu nehmen. Diese Suizide werden häufig nicht als solche erkannt und tauchen deshalb in keiner Statistik auf. Wenn keine Hilfe kommt und alte Menschen am Leben verzweifeln, halten sie sich nicht an ärztliche Ratschläge, nehmen ihre Medikamente nicht oder zu viele davon. Oder sie hören auf zu essen und schließlich zu trinken.

Ein verbreitetes Vorurteil besagt, dass es sich nicht lohne oder gar nicht möglich sei, alte Menschen psychotherapeutisch zu behandeln. Dem widersprechen Studien. Wenn es Betroffene nicht mehr in die Praxis schaffen, behandelt Fee Hoppmann sie auch in den eigenen vier Wänden. Mit anderen altersbedingten Einschränkungen, etwa "wenn jemand etwas vergesslicher geworden ist", kann die Psychotherapeutin der Medical School Berlin ebenfalls gut umgehen. Sie hat damit bereits Erfolge erzielt, aber leider ist Aufsuchende Psychotherapie die Ausnahme und nicht die Regel.

Hilfe bei wiederholten Suizidversuchen

"Menschen, die schon einen Suizidversuch begangen haben, haben eine höheres Risiko, es erneut zu versuchen", sagt Gerd Wagner. Er hat dafür ein Programm entwickelt, welches fünf Therapiesitzungen umfasst. Nicht in einer Gruppe, sondern als Einzelbehandlung, in der die Teilnehmenden lernen sollen zu erkennen, was sie in eine suizidale Krise stürzen kann.

Die Wissenschaft sagt ganz klar: Wenn der erste Weg, sich das Leben zu nehmen, versperrt wird, suchen sich die Menschen in aller Regel keinen anderen. Deshalb hilft es auch, Brücken oder Türme, von denen Menschen immer wieder in den Tod springen, zu sichern. In Jena beispielsweise konnten Suizidforscher erreichen, dass die Brüstungshöhe eines über 100 Meter hohen Turms verdoppelt wird – von leicht überwindbaren 1,20 Meter auf kaum zu erkletternde 2,40 Meter.

Andere Studien haben gezeigt: Oft wirken bereits kleine Maßnahmen präventiv. Ein wichtiger Punkt ist dabei die Botschaft, mit dem Hilfesystem in Kontakt zu bleiben. Wenn ein Mensch nach einem Suizidversuch aus einem Krankenhaus entlassen wird, kann mitunter schon ein Gespräch, etwa mit einer Ärztin aus der Notaufnahme, einen neuen Versuch verhindern.

Ein Sergeant der Florida Highway Patrol auf der Sunshine Skyway Bridge in St. Petersburg  Florida. Dort wurde 2021 eine neue Barriere zur Prävention von Selbstmorden fertiggestellt.
Ein Sergeant der Florida Highway Patrol auf der Sunshine Skyway Bridge in St. Petersburg / Florida. Dort wurde 2021 eine neue Barriere zur Prävention von Selbstmorden fertiggestellt. Bild in Detailansicht öffnen
Die Clifton-Hängebrücke in Bristol  England. Auf der Brücke ist ein Schild angebracht, das auf Hilfe in Krisensituationen durch die "Samaritans", einer Wohltätigkeitsorganisation, hinweist: "Sprechen Sie mit uns, rufen Sie die "Samariter" kostenlos an: 116 123"
Die Clifton-Hängebrücke in Bristol / England. Auf der Brücke ist ein Schild angebracht, das auf Hilfe in Krisensituationen durch die "Samaritans", einer Wohltätigkeitsorganisation, hinweist: "Sprechen Sie mit uns, rufen Sie die "Samariter" kostenlos an: 116 123" Bild in Detailansicht öffnen
Südkorea hat die höchste Selbstmordrate unter den OECD-Mitgliedstaaten. Auf der Mapo-Brücke über den Han-Fluss, der durch das Zentrum von Seoul fließt, wurde eine Hotline eingerichtet.
Südkorea hat die höchste Selbstmordrate unter den OECD-Mitgliedstaaten. Auf der Mapo-Brücke über den Han-Fluss, der durch das Zentrum von Seoul fließt, wurde eine Hotline eingerichtet. Bild in Detailansicht öffnen

Kein staatlich gefördertes Präventionsprogramm in Deutschland

"All die Verbände und Organisationen machen das im Ehrenamt", so Dr. Ute Lewitzka, Privatdozentin an der Universität Dresden und Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Eine stetige und verlässliche Förderung gäbe es nicht. Viele Hilfsangebote beruhen bislang auf Einzelinitiativen engagierter Forscherinnen und Forscher, Ärztinnen und Ärzte. "Andere Länder haben staatlich geförderte nationale Suizidpräventionsprogramme", so Lewitzka. "Wir haben das nicht". Sie wünscht sich eine gesetzliche Verankerung für den Auf- und Ausbau von mehr verfügbaren, vor allen Dingen niedrigschwelligen Angeboten.

Mit Förderung des Bundesgesundheitsministeriums haben Fachleute in Deutschland jedoch nun eine Blaupause für eine bundesweite, flächendeckende Suizidprävention geschaffen: Seit 2021 liegt ein 260 Seiten starker Bericht mit wissenschaftlichen Handlungsempfehlungen vor. Es fehlen nur noch die Politikerinnen und Politiker, die sich der Sache annehmen.

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