Wir haben kontinuierlich steigende Zahlen und das wird auch sicherlich nicht weniger werden, sagt Clemens Baudisch, Hauptkommissar im Polizeipräsidium Stuttgart. Die Kriminalstatistik zeigt: Jahr für Jahr werden in Deutschland zwischen 120 und 140 Frauen von ihren Partnern getötet. Allein in Stuttgart werden Clemens Baudisch und seine Kolleginnen von der Polizei rund 900 Mal pro Jahr alarmiert. Meist ist eine Frau das Opfer. Immer ist es eilig.
Enge Zusammenarbeit zwischen Polizei, Beratungsstellen und Notfalldienst
Stuttgart ist eine der wenigen Städte in Deutschland, in denen dann sofort ein vernetztes Hilfesystem anspringt. Nicht nur die Polizei kommt den Frauen und Kindern zu Hilfe, sondern auch ein Team vom Krisen- und Notfalldienst. Dabei geht es vor allem um den Schutz der Kinder, aber auch darum, die Frauen psychologisch zu betreuen. Der Krisen- und Notfalldienst Stuttgart ist Teil einer, wie es amtlich heißt, Stuttgarter Ordnungspartnerschaft gegen Häusliche Gewalt, die eng mit Beratungs- und Hilfestellen sowie Polizei und Justiz zusammenarbeitet.
Vor wenigen Jahrzehnten war Gewalt in der Ehe in Deutschland noch reine Privatsache. Wenn da die Polizei gerufen wurde, konnte sie nichts ausrichten. Erst seit 1997 gilt Vergewaltigung in der Ehe auch rechtlich als Straftat. Und erst seit 2002, seit das Gewaltschutzgesetz in Kraft getreten ist, kann ein gewalttätiger Partner aus der gemeinsamen Wohnung notfalls mit Gewalt entfernt werden. In 90 Prozent der Fälle ist es der Mann.
Fehlende Frauenhäuser, unterlassene Hilfeleistung
Bis es einmal so weit ist, dass die Polizei gerufen wird, haben Frauen meist einen langen, quälenden Leidensweg hinter sich. Bis sie letztendlich den Absprung aus einer Gewaltbeziehung schaffen, haben sie – wie Studien zeigen – im Durchschnitt schon sieben Mal versucht, sich von ihrem Partner zu trennen.
Aber eine gute Hilfe durch einen Platz im Frauenhaus zu bekommen wird immer schwieriger. „Das Haus ist voll belegt.“ – Diese Auskunft erhalten Frauen in Not immer häufiger. Oft scheitert auch eine Vermittlung an andere Häuser, die weiter entfernt sind. An manchen Tagen ist selbst über mehrere Bundesländergrenzen hinweg kein freier Frauenhausplatz für Mütter mit Kindern verfügbar. Auch Studien zeigen, dass viele Frauen nicht zeitnah in Frauenhäuser aufgenommen werden, weil sie zu wenig Plätze haben, zu unterfinanziert sind.
Ungefähr die Hälfte der abgewiesenen Frauen, die Schutz suchen, befinden sich in einer akuten und lebensgefährlichen Situation, sagt die Soziologin Monika Schröttle als Leiterin der Forschungsstelle "Geschlecht, Gewalt, Menschenrechte" an der Universität Erlangen-Nürnberg. Sie nennt das unterlassene Hilfeleistung. Immer mehr betroffene Frauen müssen zudem im Frauenhaus ein Jahr und länger bleiben, viel länger als vorgesehen, weil sie keine bezahlbare Wohnung finden.
Deutschland erfüllt Vorgaben der Istanbul-Konvention nicht
Mit der sogenannten Istanbul-Konvention des Europarates zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, die 2014 in Kraft getreten ist, verpflichtet sich neben anderen Ländern Deutschland pro 10.000 Einwohner einen Family Place, also eine Schutzwohnung für Frauen mit Kindern bereitzustellen. Demnach bräuchte es hierzulande 21.000 Plätze in den Frauenhäusern. Derzeit gibt es aber nur rund 7.000.
In über 100 Landkreisen und kreisfreien Städten fehlt ein Frauenhaus völlig. Fakt ist also, die Kapazität reicht bei Weitem nicht, sie muss um das Dreifache ausgebaut werden. Das hat auch das Familienministerium in Berlin erkannt. Mit einem Förderprogramm von 120 Millionen Euro sollen weitere Schutzplätze für Frauen geschaffen werden.
Aktuelle Studien zur häuslichen Gewalt in Deutschland fehlen
Polizei und Wissenschaft – alle, die damit zu tun haben, wissen, dass die meisten Straftaten im Dunkeln bleiben. Aber selbst die Faktenlage zum Dunkelfeld häuslicher Gewalt hierzulande ist veraltet. Die einzige Untersuchung hat Monika Schröttle geleitet. Sie stammt aus dem Jahr 2004 und zeigt, dass nur ein Viertel der Betroffenen von schwerer Gewalt in Paarbeziehungen sich an die Polizei gewendet hat, bei sexualisierten Gewalthandlungen sind es fünf Prozent.
Internationale Studien weisen zudem wiederholt auf die enge Beziehung zwischen früher Gewalterfahrung und späterer Gewalttätigkeit hin. Auch an diesem frühen Punkt kann Prävention ansetzen.
Vorurteile und Rollenbilder suchen Ursachen beim Opfer statt beim Täter
Die Kriminalstatistik weiß längst: Partnerschaftliche, auch sexuelle Gewalt zieht sich durch alle sozialen Schichten und Altersstufen. Siebzig Prozent der häuslichen Gewalttäter haben einen deutschen Pass, sagt Antje Joel. Die Journalistin und Autorin hat ihre Erfahrungen aus zwei Ehen in einem Buch mit dem Titel „Prügel – Eine ganz gewöhnliche Geschichte häuslicher Gewalt“ verarbeitet.
Im Telefongespräch mit SWR2 Wissen macht sie deutlich, dass in der Gesellschaft – in uns – Vorurteile und Rollenbilder schlummern, die immer wieder die Ursache für die erlittene Gewalt nicht nur bei den Tätern, sondern auch bei den Opfern suchen. Die Mehrzahl der Zeitungen, die über ihr Buch schrieben, titelten laut Joel in der folgenden Art: "Warum ich mich von meinem Mann schlagen ließ". Der Täter ist in solchen Titeln nicht nur aus dem Fokus gerückt, sondern gar kein Täter mehr, die Frau wird zur Täterin. Doch es gibt die Redewendung: Wer die Opfer verantwortlich macht, fährt das Fluchtauto für die Täter.
Medien: schreckliche Verbrechen konkret beim Namen nennen
Die Medien reagieren. Die Deutsche Presse-Agentur wies ihre Redakteurinnen und Redakteure an, in der Berichterstattung über Partnergewalt Begriffe wie „Familientragödie“, „Familiendrama“ oder „Beziehungsdrama“ nicht mehr zu verwenden. Solche Begriffe, so DPA-Chefredakteur Sven Gösmann, erinnerten eher an Theater als an das, was wirklich geschehen ist, nämlich schreckliche Verbrechen.
Zu den widerlegten Vorurteilen gehört auch die Meinung, eine Frau hätte einen Anteil an der Eskalation der Gewalt, weil sie es versäumt habe, rechtzeitig zu gehen. Denn ein Drittel aller Frauen erfährt Gewalt auch noch, nachdem sie die Täter verlassen haben. 75 Prozent der schwersten Übergriffe, Mord inklusive, finden laut Joel nach der Trennung statt oder in der Phase der Trennung.
Täterarbeit ist flächendeckend notwendig
Ohne flächendeckende Täterarbeit sieht die Soziologin Monika Schröttle keine Chance. Zeitnah zur Tat sollte der Täter – und in seltenen Fällen ist es ja auch eine Täterin – sich mit den Gewaltattacken auseinandersetzen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Täterarbeit fordert, dass jeder Partner, der aus der Wohnung verwiesen wurde, sogleich eine Beratungsstelle aufsucht. Vorausgesetzt, es existiert vor Ort überhaupt ein solches Angebot.
Doch Männer haben es in Deutschland verhältnismäßig leicht, unbehelligt zu bleiben. Oft kommt es vor, dass eine Frau nachgibt und ihren Partner wieder zurück in die Wohnung lässt, während er eigentlich noch einen Platzverweis hat. Das Gewaltschutzgesetz wird dann ausgehebelt. In Österreich wird eine Frau mit einer Geldbuße belegt, wenn sie das macht. Und der Täter, in der Amtssprache der Gefährder, muss innerhalb von fünf Tagen nach dem Platzverweis bei einem Gewaltpräventionszentrum vorsprechen.
Oft verweigern Täter hierzulande nach der Trennung Unterhaltszahlungen, beharren aber andererseits auf einem Umgangsrecht mit den Kindern. 700.000 Väter in Deutschland zahlen laut Bundesfamilienministerium keinen Unterhalt für die alleinerziehenden Mütter. In England hat der Staat das Recht, diesen Männern den Führerschein wegzunehmen. In Kanada werden Nichtzahler auf einer Internetseite mit Namen und Foto öffentlich gemacht.
Aktive Täterarbeit und Prävention hätten bereits viele Menschenleben retten können. Doch ohne beides bleiben die viel zu wenigen Frauenhäuser oft die letzte Rettung – die wirklich allerletzte Instanz für Frauen in Not. Aber der Schutz der Opfer allein vermag die hohe Zahl der Gewalttaten und Todesfälle nicht zu mindern. Deshalb sind sich Experten und Expertinnen einig: Häusliche Gewalt stoppen kann nur Prävention und informiertes und konsequentes Handeln der staatlichen und kommunalen Hilfen.