JetztMusik - Glossar

Außereuropäische Musik

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„Die japanische Musik besänftigt das europäische Herz nicht, sondern reizt es bis zur Unerträglichkeit.“ Dieses Urteil des Japanologen Basil Hall Chamberlain in seinem Lexikon Things Japanese von 1890 (deutsch: 1912) bekäme heute wohl keine Zustimmung, schon gar nicht von Komponisten unserer Zeit. Schließlich ist der Einfluss groß, den die nichtabendländischen
Musikkulturen sowie jene an den Rändern Europas auf die Neue Musik vor und nach 1945 gespielt haben und spielen. War es Ende der 1960er Jahre und in den 1970er Jahren vor allem die vielfältige Musik Indiens, die so unterschiedliche Komponisten wie Olivier Messiaen, Karlheinz Stockhausen, Terry Riley, Peter Michael Hamel faszinierte, interessierte sich Steve Reich in jener Zeit vor allem für die traditionelle Trommelmusik Ghanas und später für die traditionelle jüdische Musik des Jemen. György Ligeti begeisterten die Gesänge der Aka-Pygmäen aus Zentralafrika, die zu den ältesten Musikkulturen gehören; Luigi Nono faszinierte die vokale sardische Bauernmusik, die wohl älteste mehrstimmige Musik. Dieter Mack ist ein ausgewiesener Kenner der Gamelan-Musik Indonesiens, deren Klänge bereits Claude Debussy bei der Weltausstellung 1889 in Paris aufhorchen ließen. Klaus Huber beschäftigt sich mit Formen arabischer Musik. Alberto Ginastera und Silvestre Revueltas setzten sich intensiv mit der folkloristischen Musik Süd- und Lateinamerikas auseinander, wie es zuvor Béla Bartók mit der in Südosteuropa getan hat. Manche der Genannten haben ihr Interesse mit längeren Aufenthalten in den entsprechenden Ländern vertieft, manche sogar wissenschaftliche Feldforschungen betrieben. Mittel- und unmittelbare Spuren haben diese Kontaktaufnahmen zum „Fremden“ auf alle Fälle hinterlassen. Manchmal sind es bloß oberflächliche Klang-Exotismen, manchmal ist es nur die Übernahme eines Instrumentes (etwa der japanischen Mundorgel Shô durch z. B. John Cage, Gerhard Stäbler, Helmut Lachenmann), manchmal sind es aber auch direkte strukturelle Transformationen aus nicht-westlichen Musikkulturen ins eigene
Komponieren. In den 1990er Jahren rückten zunehmend die traditionellen Musikkulturen Japans und Chinas in den Mittelpunkt des Interesses, etwa bei Christian Utz und Peter Gahn. Sie komponieren für asiatische oder asiatisch-westlich gemischte Instrumentalensembles. Umgekehrt entdeckten und entdecken Komponisten wie Toru Takemitsu, Tan Dun oder Guo Wenjing die vielfältige musikalische Tradition ihrer Länder. Mauricio Kagel hat die kompositorische Einverleibung nicht-westlicher Musik durch den Westen in seinem Stück Exotica (1972) für außereuropäische Instrumente thematisiert, kritisiert und persifliert, indem er den (europäischen) Spielern vorschreibt, sie mögen mit originalen nichteuropäischen, ihnen also unvertrauten Instrumenten außereuropäische, „primitive“ Musik nachahmen. Nahezu alle Schlaginstrumente, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts in die Konzertsäle gelangt sind, sind außereuropäischer Herkunft.

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Autor/in
SWR