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Sarah Winman – Lichte Tage

Stand
AUTOR/IN
Holger Heimann

Der 45-jährige Ellis verliert die beiden ihm wichtigsten Menschen bei einem Unfall: seine Frau und seinen besten Freund. Er droht in Einsamkeit zu versinken, aber die Erinnerung an lichte Tage gibt ihm die Hoffnung zurück, trotz allem glücklich sein zu können. "Lichte Tage" von Sarah Winman ist ein traurig-schöner Roman.

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Wer den Namen Oxford hört, der denkt gemeinhin an die berühmte Universität, an imposante Bauwerke, ausgedehnte Parks, altehrwürdige Clubs, prächtige Bibliotheken und Studenten im Talar. Die britische Schriftstellerin Sarah Winman aber kennt aus Kindheitstagen auch eine ganz andere Seite der Stadt. Der Ostteil von Oxford, in dem sie ihren Roman angesiedelt hat, wird von Werkhallen und Arbeitervierteln geprägt. Der 45 Jahre alte Ellis arbeitet hier in einer Autofabrik. Er ist ein Tin Man, ein Blechmann – so heißt der Roman auch im Original. Keiner versteht es so wie er, Dellen auszubeulen. Schon als Lehrling hat er sich als Arbeiter mit besonderem Feingefühl entpuppt:

„Ellis nahm die Handfaust platzierte sie hinter der Delle und begann, von oben mit dem Löffeleisen dagegenzuhämmern. ‚Achte auf den Klang!‘, hatte Garvy gerufen. ‚Gewöhn dich an den Klang. Der Ton sagt dir, wann du die richtige Stelle gefunden hast.‘ Und als Ellis fertig war, stand er auf, selbstzufrieden, denn das Blech war so glatt, als wäre es gerade eben erst gewalzt worden.“

„Lichte Tage“ erzählt von einer handwerklichen Kunstfertigkeit, die der Kunst verwandt ist. Wie ein Bildhauer formt Ellis sein Material. Vor allem aber handelt der Roman von tragischen Verlusten. Ellis, dem wir Mitte der 90er Jahre begegnen, umgibt eine große Traurigkeit. Er ist allein. In der Autofabrik schiebt er Nachtschichten, weil er nicht schlafen kann. Sein bester Freund Michael und seine Frau Annie sind fünf Jahre zuvor bei einem Autounfall umgekommen. Ellis‘ Leben ist geprägt durch die Erinnerung an ferne, lichte Tage und an eine Jugend voller Versprechungen. Unterstützt von seiner Mutter wollte er Maler werden. Aber nach ihrem Krebstod wurde ihm dieser Weg durch den autoritären Vater verbaut. Die Andersartigkeit seines künstIerisch begabten, sensiblen Sohnes ängstigte den Mann.

In der Freundschafts- und Liebesbeziehung zum elternlosen Michael öffnet sich für Ellis ein neuer Freiheitsraum. Während einer Frankreichreise der beiden Freunde scheint die Möglichkeit zu einem ganz anderen Leben am intensivsten und farbigsten auf. Festgehalten ist die Zeit in Michaels Tagebuch, auf das Ellis beim Aufräumen stößt. Die Notizen, die den zweiten Teil des klug komponierten Romans ausmachen, ergänzen die Perspektive von Ellis. Die einzigartige Beziehung der beiden Heranwachsenden, die sich gegenseitig Halt und Zuversicht geben, zerbricht auch dann nicht, als Annie auftaucht und bald darauf Ellis‘ Frau wird.

Winman schildert ein Liebesdreieck, in dem Eifersucht keine Rolle spielt. Bestimmend sind Güte und Großherzigkeit. Derart nahezu konfliktlose Beziehungen mag es geben. Doch scheint zuweilen eine Darstellung, die sich auf positive menschlich Potenziale konzentriert, den Blick auf die problematischen Anteile der besonderen Konstellation zu verstellen. Sarah Winman mag sich derartiger Einwände bewusst gewesen sein. In einem Interview hat sie gesagt, ihr sei es darum gegangen, „eine Alternative zu einer ermüdend alten Narration eines Dreiecks anzubieten“. Sie wolle Geschichten schreiben, die Lösungen offerieren.

Krisenfrei ist Winmans dritter Roman keineswegs. Er ist voller erzwungener Abschiede – von Menschen, aber auch von Hoffnungen und Ambitionen. Ellis‘ Leben erschöpft sich zu Beginn des Buches beinah ganz im Kampf ums Überleben. Doch er stürzt nicht ab in Verzweiflung und Depression. Vielmehr denkt er, so heißt es zuletzt, dass seine Einsamkeit zu bewältigen sein könnte.

Diese tröstliche Perspektive wirkt nicht aufgesetzt. Ellis muss alleine zurechtkommen, aber ihn hält die Erinnerung an eine – trotz der verpassten Gelegenheiten – positiv aufgeladene Vergangenheit. „Lichte Tage“ ist ein Buch der großen Gefühle, das sich nie in distanzierende Lakonie flüchtet.

Sarah Winman erzählt nichts weniger als eine Erlösungsgeschichte. Sie balanciert dabei zuweilen auf einem schmalen Grat und entgeht manchmal nur knapp der Absturzgefahr hin zum Kitsch. Vorhalten muss man ihr einige Klischeebilder: das Licht in der Provence ist „gleißend“, der Himmel von besonderem „Blau“. Aber das sind wenige Ausrutscher in einem berührenden, traurig-schönen Roman.

Aus dem Englischen von Elina Baumbach
Klett Cotta Verlag, 194 Seiten, 22 Euro
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