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Konrad Paul Liessmann – Lauter Lügen und andere Wahrheiten

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AUTOR/IN
Eberhard Falcke

Politik und Moral, Kultur und Zensur, Freund und Feind, Winnetou, der Weltuntergang - das sind nur einige der Themen, mit denen sich Konrad Paul Liessmann in "Lauter Lügen" auseinandersetzt, geistvoll und mit Entschiedenheit zugleich.

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"In allen Lüften hallt es wie Geschrei", so heißt es in dem berühmten Gedicht des Expressionisten Jakob van Hoddis, das 1911 zum Fanal für eine neue, krisengeschüttelte Zeit wurde. Auch der Sound unserer aufgeregten Gegenwart wird häufig von schrillen Tönen bestimmt. Das ist eines der Themen, mit denen sich Konrad Paul Liessmann in seinem neuen, sehr lesenswerten Buch auseinandersetzt.

Leider aber krakeelen solche Töne auch auf dem Buchumschlag, wo sie gar nicht hingehören. Denn der Titel "Lauter Lügen" ergießt sich kataraktartig in gleich mehrfacher Wiederholung über den ganzen Umschlag. Dadurch wird eine falsche Erwartung geweckt, vor der man den Autor bewahren muss: nämlich dass er hier das gesamte aktuelle Geschehen als einen einzigen großen Schwindel vorführen wollte.

Doch so ein schlicht polemischer Haudrauf ist der österreichische Philosoph und Kulturpublizist keineswegs, wie beim Aufschlagen des Bandes der vollständige Titel verrät. Der avisiert schön paradox und dialektisch: "Lauter Lügen und andere Wahrheiten".

Wenn Liessmann über Lügen nachdenkt, dann richtet er sein Augenmerk nicht allein auf die platte Alltagsproduktion von Fake News und dergleichen, sondern stellt fest, dass die Lüge in Politik oder Kunst ganz anders zu bewerten sei als in der Wissenschaft. Der Begriff "Lügenpresse" kommt bei ihm nicht vor. Auch im Falle von Verschwörungstheorien liegen die Dinge dem Autor zufolge nicht so einfach, wie es auf den medialen Schlachtfeldern erscheinen will.

Überhaupt sind es vor allem öffentliche Debatten, die Liessmann die Themen liefern, auf die er mit seinen Reflexionen, Analysen und Klarstellungen reagiert. Was bleibt unter dem Regime der Identitätspolitik noch von der Individualität übrig? Warum werden so viele Kontroversen hysterisch zum Entweder-Oder zugespitzt? Wem nützt es, wenn durch die Moralisierung politischer Konflikte vor allem die sachliche Auseinandersetzung verhindert wird?

Das sind nur einige der Überlegungen, die Liessmann hier anstellt. Im Vorwort betont er, dass er als Kolumnist, anders als die zunehmend in Mode gekommenen "Haltungsjournalisten", die Welt nicht verändern, sondern verstehen wolle, nicht zuletzt, um als Zeitgenosse zu erkennen, in welcher Zeit er lebt. Dabei gehört es natürlich zur Kunst des Zeitbeobachters, auch an grotesken Bagatellen die Anzeichen für wahrhaft erschütternde kulturrevolutionäre Umwälzungen zu erkennen.

So zum Beispiel, wenn der Autor von einer Fakultätsmitarbeiterin schriftlich auf einmal als "Sehr geehrt* Liessmann" angesprochen wird, womit er sich unverhofft zum geschlechtslosen Wesen degradiert sieht. Oder wenn Österreich seine Werteordnung auf Comic-Format bringt, um Zuwanderer damit vertraut zu machen.

Mit seinen Beobachtungen zur politischen Moral, zur Weltverbesserung durch Sprachregelungen oder zur Umwertung des schönen alten Guten zum politisch Korrekten liefert Liessmann nicht zuletzt eine kleine Enzyklopädie neuester Entwicklungen, die um der aufgeklärten Vernunft willen keineswegs unwidersprochen bleiben sollten.

Immer argumentiert er geistvoll und ohne Schaum vor dem Mund. Auch dort, wo er entschieden Widerspruch einlegt, bleibt sein Stil Ausdruck von Differenzierung und demokratischem Pluralismus. Das ist ein großes Lesevergnügen für alle, denen das Selbstdenken noch nicht zu schwer geworden ist.

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Ein Autor erzählt tradierte Geschichten nach, ein Philosoph zeigt, welche Geheimnisse der menschlichen Existenz sie auch für heutige Leser bereithalten.
Rezension von Oliver Pfohlmann.

Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-26402-1
224 Seiten
20 Euro

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