Buchkritik

J.M. Coetzee – Der Pole

Stand
AUTOR/IN
Julia Schröder

Schmaler Roman mit großen Themen: „Der Pole“, das neue Buch des Literaturnobelpreisträgers J. M. Coetzee, erzählt eine Liebesgeschichte nach klassischem Vorbild und handelt von Musik, Poesie und Tod – mit Leichtigkeit.

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„Der Pole“, das neue Buch von J. M. Coetzee, nennt sich „Roman“. Angemessener wäre vielleicht die Bezeichnung „Etüde“. Weil es schmal ist und, wie die einschlägigen Musikstücke, seine Gegenstände mit hochverdichteter Leichtigkeit bearbeitet. Weil es, wie eine wissenschaftliche Studie, intensiven Forschungseifer erkennen lässt. Und nicht zuletzt, weil der Komponist Chopin, der die Kunst der Klavier-Etüde zum Höhepunkt geführt hat, auf diesen 144 Seiten fast omnipräsent ist.

Gegenwärtig ist er in Gestalt seines Landsmanns Witold, eines polnischen Pianisten um die siebzig. Der ehedem strahlende Stern des Chopin-Interpreten mit der wallenden weißen Haarmähne ist bereits im Sinken, als er vor einem Kreis wohlhabender Musikfreunde in Barcelona auftritt. Eingeladen hat ihn Beatriz, Mitte vierzig, eine freundliche, anmutige Dame der Gesellschaft. In den kurzen bis kürzesten, durchnummerierten Absätzen, aus denen das Buch besteht, führt der Erzähler die beiden ein. Nummer eins, der erste Satz des Buchs, lautet vollständig:

Zuerst bereitet die Frau ihm Schwierigkeiten und bald darauf auch der Mann.

Damit sind drei Dinge zum Ausdruck gebracht. Zunächst das Offensichtliche: Es geht um diese Frau und diesen Mann. Und um den Erzähler. Zweitens: Er, der Erzähler, hat die beiden und ihre Geschichte erfunden, hat sie sich ausgedacht, hat sie gemacht – wir Leser sollen nicht vergessen, dass wir es mit einem Stück geformter Sprache zu tun haben, mit Literatur. Und drittens: Literatur machen ist Arbeit, „bereitet … Schwierigkeiten“.

Auf das Lesen von Literatur trifft dies oft ebenfalls zu, wer wüsste das besser als die Leserschaft von J. M. Coetzee? In seinen vorangegangenen Romanen, vorgeblich über die Kindheit, die Schulzeit und den Tod Jesu, konstruierte er kaltblütig ein aberwitziges Geflecht der Zitate und Anspielungen, ausgespannt zwischen den Evangelien, „Schuld und Sühne“ und „Don Quijote“.

In diesem neuen Buch sprengt Coetzee große Referenzen und Menschheitserzählungen nicht in die Luft, vielmehr hantiert er umsichtig mit ihnen, allen voran mit Dantes unsterblicher Liebe zu seiner Beatrice. In der kühlen Katalanin Beatriz nämlich erkennt der im Verlauf der Handlung sehr alternde Witold das Idol seiner absoluten Liebe, die nichts hofft, nichts erwartet und dennoch die Jahre, am Ende sogar den Tod überdauert.

‚Werte Dame‘, sagt der Pole, ‚Sie erinnern sich doch an Dante Alighieri, den Dichter? Seine Beatrice schenkte ihm nie ein Wort, und er liebte sie sein Leben lang.‘ (…)

Sie schüttelt den Kopf. ,Wir sind Fremde, Sie und ich‘, sagt sie.

Nunja, irgendwann lädt Beatriz ihn dann doch für ein paar Nächte in ihr Bett, aparterweise auf der mallorquinischen Familienfinca ihres Ehemanns. Weil sie seinem seltsam ritterlichen, zugleich kindlichen Begehren mit dem ihr eigenen Mitgefühl begegnet. So jedenfalls deutet sie es für sich.

Danach verbannt sie Witold aus ihrem Leben. Er wiederum hinterlässt ihr, wie sie erst nach seinem Tod erfährt, in seiner tristen Warschauer Wohnung einen Stapel Gedichtmanuskripte. An diesen hat er nach Auskunft einer Nachbarin jahrelang gearbeitet. Nachdem Beatriz die Gedichte aus dem Polnischen hat übersetzen lassen, wird ihr klar, dass diese an Dantes Bildwelt orientierten Verse sie dauerhaft beschäftigen werden und vor allem einem dienten:

Um diesen Verlust im wahren Leben ertragbar zu machen, muss er all seine schwindenden Kräfte aufgeboten haben, um eine neue Beatriz zu beschwören, zu erschaffen, ins Leben zu rufen, eine verwandelte, doch solide Version ihrer selbst …

Dass diese Interpretation alles erklärt, was zwischen den beiden geschehen ist und nicht geschehen ist, darf man bezweifeln. In diesem Buch werden immer wieder entschiedene Ansichten zu Kunst und Leben geäußert, werden Fragen beantwortet wie die, was nach dem Tod kommt, was eigentlich Liebe ist und was gute Musikinterpretation und gute Gedichte ausmacht. Und immer wieder werden diese Ansichten und Antworten angezweifelt und relativiert. So heißt es in einem der kurzen Absätze:

Ist es ihm in den Sinn gekommen, dass sie sich im Jenseits möglicherweise nicht treffen würden, (…) weil das Schicksal ihn für das Souterrain bestimmt hat, während sie oben im Paradies schwebt, ewig unerreichbar?

Und gleich im nächsten:

Oder umgekehrt?

Verglichen mit den zuweilen krassen Effekten seiner früheren Bücher sind es sanft ironische Töne, mit denen der heute 83-jährige J. M. Coetzee diese Alterserzählung von Liebe, Kunst und Tod würzt. Wir Leser, darauf weisen kommentierende Einsprengsel und kleine Vorausdeutungen hin, sehen lediglich Scherben eines Geschehens. Auch die Haltung des Erzählers lenkt vom ersten Satz an den Blick darauf, dass der Autor seinerseits nur mit den Scherben eines Allwissens arbeiten und kein vollständiges Abbild der Realität schaffen möchte.

Es ist ein angenehmer Herbsttag. Die Blätter färben sich und so weiter.

Coetzee zerlegt die Mythen himmlischer Liebe und ans Göttliche reichender Kunst, die ja weiterhin aus vergangenen Jahrhunderten in unser Heute hineinragen. Doch in der Art der japanischen Klebekunst Kintsugi baut er aus den Scherben etwas Neues, ganz Diesseitiges auf, dessen Facetten aus jedem Blickwinkel anders schimmern.

Buch der Woche J. M. Coetzee - Der Tod Jesu

„Der Tod Jesu“ heißt der dritte und letzte Band der „Jesus-Trilogie“ von J. M. Coetzee. Dieses große Romanprojekt feiert das Nichts – auf sehr unterhaltsame Weise.
Rezension von Julia Schröder.

Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke
Verlag S. Fischer
ISBN: 978-3-10-397026-5
224 Seiten
24 Euro

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