J. M. Coetzee - Der Tod Jesu

Buch der Woche

J. M. Coetzee - Der Tod Jesu

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AUTOR/IN
Julia Schröder

Die Jesus-Trilogie ist abgeschlossen! Nachdem er zunächst von Jesu Kindheit und Schulzeit erzählt hatte, heißt sein Abschlussband nun „Der Tod Jesu“.

Doch halt! Jesus kommt in dieser Geschichte um den zehnjährigen David gar nicht wirklich drin vor. Oder doch?

Eine Geschichte voll literarischer und philosophischer Referenzen. Gedankenschach vom Feinsten.

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Seit 2013 arbeitete Coetzee an der Jesus Trilogie

Der südafrikanische Autor John Maxwell Coetzee hat im Jahr 2003 den Literaturnobelpreis erhalten für ein durchaus sozial- und zeitkritisches, oft auch autobiografisches Oeuvre.

In seinen Romanen erzählte er etwa von den Auswirkungen der Apartheid in Südafrika oder schilderte seinen eigenen Werdegang vom Aufwachsen in Kapstadt bis zu den Studienjahren in London.

Seit 2013 hat Coetzee, der inzwischen in Australien lebt, an einem deutlich anderen Projekt gearbeitet: der sogenannten „Jesus-Trilogie“

Leseerwartungen werden in „Der Tod Jesu“ schachmatt gesetzt

Nach den ersten beiden Teilen, „Die Kindheit Jesu“ und „Die Schulzeit Jesu“, trägt er folgerichtig den Titel „Der Tod Jesu“. Spätestens jetzt zeigt sich, dass es sich bei dieser Trilogie eigentlich um einen einzigen, umfangreichen Roman handelt.

Was J. M. Coetzee in seiner „Jesus-Trilogie“ macht, hat ein Kritiker einmal „Gedankenschach“ genannt. Das war durchaus anerkennend gemeint.

Und es trifft zu, für das ganze Projekt, wie sich im dritten Teil, im Roman „Der Tod Jesu“, wieder erweist. Denn Coetzee, der in wenigen Tagen achtzig wird, spielt in seinem Alterswerk einen überraschenden Zug nach dem anderen, beschert seinen Lesern eine fesselnde Partie – und setzt jede erdenkliche Leseerwartung auf atemraubende Weise schachmatt.

Autor J.M. Coetzee
Autor J.M. Coetzee

Die Hauptfigur heißt nicht Jesus, sondern David

Das geht schon damit los, dass in den Büchern, von den Titeln abgesehen, nirgends ein Jesus vorkommt. Die Hauptfigur ist vielmehr ein Junge namens David, anfangs fünf und am Ende zehn Jahre alt.

Er verkörpert eine Art von Heilsbringer, wie sie im Buche steht. Allerdings nicht in einem der heiligen Bücher des Neuen Testaments, sondern in einer apokryphen Schrift, die von der Bibelwissenschaft als „Kindheitsevangelium des Thomas“ bezeichnet wird und vom kleinen Jesus Christus erzählt.

Der Protagonist ist nicht wirklich sympathisch

Wie dieser zeichnet sich Coetzees David durch einige nicht unbedingt sympathische Verhaltensauffälligkeiten aus.

Er möchte toten Tieren und Menschen neues Leben einhauchen. Er manipuliert seine Spielkameraden. Er verblüfft die Erwachsenen, weil er sich das Lesen und Rechnen schon irgendwann selbst beigebracht hat.

Rechnen mag er allerdings nur mit speziellen Zahlen, und das einzige Buch, das er liest, ist die Kinderausgabe einer der großen Erzählungen der Weltliteratur - des „Don Quijote“ nämlich.

Der Junge eckt wegen seiner Eigenarten immer wieder an

Davids Lesart des „Don Quijote“ ist allerdings so außergewöhnlich wie eigentlich alles an ihm. Er begreift den Ritter von La Mancha eben nicht als einen „von der traurigen Gestalt“, sondern als wahren Retter - einen, der tatsächlich gegen Riesen und für die Bedrängten kämpft.

Für David ist Don Quijote ein Held. Und ein Vorbild, womit der Junge natürlich immer wieder aneckt.

Im ersten Teil der Trilogie, „Die Kindheit Jesu“, ist der kleine David kurz vor Beginn der Handlung per Schiff in einem spanischsprachigen Land angekommen, in der Obhut eines Mannes namens Simón, der nicht sein Vater ist.

Die Geschichte wird im Präsens erzählt

An das Schiff können beide sich schwach erinnern, mehr wissen sie nicht über ihre jeweiligen Vergangenheiten. Ähnlich geht es allen Bewohnern des sonderbaren Landes, denen sie begegnen.

Die Überfahrt in das „neue Leben“, heißt es, habe sie von allen Erinnerungen „reingewaschen“. Von diesen jenseitsartigen Gefilden des „Hier und Jetzt“, einem Reich des Wohlwollens, aber ohne Sehnsucht, ohne Utopie, ohne Fortschritt erzählt Coetzee denn auch konsequent im Präsens.

Die scheinbar einfache Prosa hat jedoch mehr zu bieten, als man denkt

Sein Stil ist schlank, ja karg. Unter der scheinbar einfachen Prosa aber brodelt etwas: die lustvolle Zerstörung und Neukonstruktion einiger großer Erzählungen der Menschheit.

In der neuen Heimat guckt Simón eine neue Mutter für David aus, die „Jungfrau“ Inés, und versucht fortan, in platonischer Kameradschaft mit ihr den Jungen zu erziehen.

Was sich spätestens im zweiten Teil, „Die Schulzeit Jesu“, als Ding der Unmöglichkeit herausstellt. Im jetzt erschienenen dritten und letzten Teil sagt der Zehnjährige sich schließlich von seinen Aushilfseltern los.

Göttliches Selbstbewusstsein trifft auf schnöden Alltag

David schleudert in einem der Dialoge, wie sie typisch für die „Jesus-Trilogie“ sind, Simón entgegen:

Du willst, dass ich bin, wer ich deiner Meinung nach bin, du willst nicht, dass ich bin, wer ich meiner Meinung nach bin.‘
‚Und wer bist du deiner Meinung nach?‘
‚Ich bin, der ich bin!‘
‚Du bist der, der du bist, bis ein größerer Junge dir dein Fahrrad wegnimmt. Dann bist du ein hilfloser Zehnjähriger.‘

„Ich bin, der ich bin“ - der auch immer wieder komische Zusammenprall von göttlichem Selbstbewusstsein und der sinnlosen Kontingenz des Alltags erreicht im Schlussteil der Trilogie seinen Höhepunkt.

Die Vergangenheit holt David ein

„Der Tod Jesu“ erzählt, wie David im Land ohne Geschichte und Zukunft paradoxerweise von der Vergangenheit eingeholt wird. So lässt das Tanzinstitut des Musikers Juan Sebastián Arroyo – wie „Johann Sebastian Bach“ – ihn nicht los.

Dort hatte er im zweiten Band gelernt, nach den Regeln einer Art platonischer Zahlenmystik mit den Sternen zu tanzen. Noch immer steht David in Kontakt mit dem jovial-beunruhigenden, wie von Dostojewski erfundenen Mörder Dmitri.

Davids Don-Quijote-hafte Realitätsverachtung bringt ihn nun ernsthaft in Gefahr. Zunehmend wird er von den Schatten seiner vergessenen Vergangenheit geplagt.

Zitate, Anspielungen und Referenzen finden sich zuhauf in „Der Tod Jesu“

Sie materialisieren sich in unruhigen Träumen und in Strophen aus Gustav Mahlers „Kindertotenliedern“, die David in den Sinn kommen. Und die finsteren Vorausdeutungen erfüllen sich schließlich.

Literarische und philosophische Referenzen, Zitate zuhauf sind die Spielfiguren in der Welt dieser Romane. Die Regeln der literarischen Schachpartie jedoch ändern sich immer just dann, wenn man glaubt, sie begriffen zu haben.

Die „Botschaft“ als zentrales Moment der Handlung

Coetzee schiebt die Axiome, die Definitionen des gesunden Menschenverstands so lang über das Brett, bis sie einfach nichts mehr bedeuten. So macht er es auch mit den Wörtern, in denen seine Charaktere ihre Gefühle und Überzeugungen ausdrücken.

Eine große Rolle spielt etwa der Begriff „Botschaft“. David ernennt sich zum Träger einer Botschaft, aber er stirbt, ohne dass sich klärt, was diese Botschaft gewesen wäre.

Um die Deutungshoheit über das Leben des Kindes kämpft sein Ersatzvater Simón fortan mit dem verrückten Mörder Dmitri, der wiederholt behauptet, er kenne Davids Botschaft. Irgendwann aber schreibt Dmitri an Simón:

In gewissem Sinn hatte David eine Botschaft, obwohl der Inhalt der Botschaft noch dunkel ist. Vielleicht hatte er die Botschaft noch nicht gänzlich ausformuliert. Vielleicht war da eine Wolke in seinem Geist, aus der heraus die Botschaft geboren werden sollte. Das ist möglich. Aber in einem anderen Sinn ist es irrelevant, ob er eine Wolke in seinem Geist hatte oder nicht, weil David vielleicht selbst die Botschaft gewesen ist. – Der Bote war die Botschaft: ein überwältigender Gedanke, finden Sie nicht?

Die Lektüre bereitet ein intelligentes Vergnügen

Dmitris Brief gipfelt in der durchgeknallten Aufforderung, Davids Urnengrab aufzubrechen, um ihn ins Leben „zurückzubringen“. Was freilich ebenso versandet wie Simóns Suche nach der ominösen „Botschaft“.

„Der Tod Jesu“ nimmt am Ende nichts Geringeres als das christliche Bekenntnis zum Wiederauferstandenen aufs Korn.

Die Jungfrauengeburt, die Verkennung durch die Seinen, das Wirken von Wundern bis zur Leidensgeschichte und zum leeren Grab, alles, was zum Messiasgeheimnis der Evangelien gehört: selten ist es so skrupellos aufgerufen und so gründlich abgeräumt worden wie hier.

Selten hat solch ein literarisches Gemetzel aber auch so viel intelligentes Lektürevergnügen beschert wie in der fröhlichen Botschaft vom Nichts, die J. M. Coetzee in seinem Jesus-Roman verkündet.

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Julia Schröder