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Claudia Piñeiro – Kathedralen

Stand
AUTOR/IN
Victoria Eglau

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Ein dunkles Familiengeheimnis: Vor dreißig Jahren wurde Ana tot aufgefunden. Warum sie starb und wer dafür verantwortlich war - das will Anas Vater kurz vor seinem eigenen Tod herausfinden. Die Bestseller-Autorin Claudia Piñeiro hat mit "Kathedralen" einen Roman zur argentinischen Abtreibungs-Debatte geschrieben.

Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Unionsverlag, 320 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-293-00592-1

Die 1960 geborene Argentinierin Claudia Piñeiro hat etliche Romane, darunter auch Krimis, geschrieben, gleich ihr zweiter machte sie 2005 international bekannt. Ihre Bücher wurden ins Deutsche und zahlreiche andere Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien ein Band mit Erzählungen und jetzt ein Roman mit dem Titel "Kathedralen" – Victoria Eglau.

Eine tote Siebzehnjährige, ihr Körper zerstückelt und verbrannt – gleich auf der ersten Seite von Claudia Piñeiros Romans „Kathedralen“ erfahren wir von der entsetzlichen Tragödie, die der erzkatholischen argentinischen Familie Sardá vor dreißig Jahren widerfahren ist. Die Überreste von Ana, der jüngsten von drei Töchtern, wurden auf einem brachliegenden Grundstück gefunden. Die Justiz hat die Tat nie aufgeklärt, die Familie ist über dem traumatischen Ereignis zerbrochen: Während Anas Mutter und ihre ältere Schwester Carmen zu noch fanatischeren Kirchgängerinnen geworden sind, ist die mittlere Tochter Lía vom Glauben abgefallen. Und sie hat ihr Elternhaus in einem bürgerlichen Vorort von Buenos Aires verlassen, um im fernen Spanien ein neues Leben als Buchhändlerin zu beginnen. Von ihrer Familie will sie nichts mehr wissen.

Ein anderes Familienmitglied, das mit dem Schweigen über das Verbrechen und den vielen offenen Fragen nicht klarkommt, ist Lías Neffe Mateo. Auch Mateo flüchtet – drei Jahrzehnte nach Lía – aus seinem frömmelnden Elternhaus. Eines Tages taucht er bei seiner Tante in Santiago de Compostela auf – mit einem Brief seines gerade verstorbenen Großvaters. Der wollte am Ende seines Lebens schließlich doch noch herausfinden, wer und was für den Tod seiner Tochter Ana verantwortlich war.

In ihrem Roman lüftet Claudia Piñeiro das düstere Geheimnis der Familie Sardá ganz allmählich, indem sie die verschiedenen Akteurinnen und Akteure nacheinander zu Wort kommen lässt. Besonders aufschlussreich ist das Kapitel, in dem die beste Freundin der toten Ana schildert, was vor dreißig Jahren geschah. Sie heißt Marcela, und von ihr erfahren wir, dass Ana nicht ermordet wurde, wie ein Teil der Familie glaubt, sondern infolge einer heimlichen Abtreibung ums Leben kam. Das zu verraten, sei hier erlaubt – auch die Schriftstellerin enthüllt diese Wahrheit schon in der Mitte ihres Romans. Vom wem Ana schwanger war, sagt Marcela zwar nicht – aber es ist nicht allzu schwer, sich das zusammenzureimen.

Ganz offensichtlich hatte es für Claudia Piñeiro keine Priorität, den Spannungsbogen bis zum Ende zu halten – denn das ist ihr nicht gelungen. Vielmehr ging es ihr wohl darum, jene Schlagzeile in Literatur zu verwandeln, die schon so oft in argentinischen Medien zu lesen war: „Junge Frau stirbt nach illegaler Abtreibung“.  Dass im Verborgenen vorgenommene Schwangerschaftsabbrüche für Frauen oft tödlich ausgehen, war in Argentinien eines der Hauptargumente für die Legalisierung der Abtreibung. Zu den prominenten Befürworterinnen gehörte auch Bestseller-Autorin Piñeiro. Ihren Roman „Kathedralen“ veröffentlichte sie während des langwierigen parlamentarischen Prozesses – bevor der argentinische Kongress schließlich Ende 2020 grünes Licht für legale Abtreibungen in staatlichen Krankenhäusern gab.

„Kathedralen“ muss also als politischer Roman gelesen werden, in dem die katholische Kirche, die die Legalisierung mit aller Macht bekämpfte, nicht gut wegkommt. In der Familie Sardá darf das Wort Abtreibung nicht einmal ausgesprochen werden. Dennoch tat die hyperkatholische Carmen vor dreißig Jahren nichts, um ihre Schwester Ana davon abzuhalten, das uneheliche Kind wegmachen zu lassen. Diese Scheinheiligkeit in Teilen des katholischen Milieus hat Piñeiro zweifellos nicht erfunden. Allerdings gerät ihr Carmen am Ende zu einer Karikatur, da sie sie buchstäblich über Leichen gehen lässt, womit die Romanfigur stark an Glaubwürdigkeit einbüßt. Viel gelungener ist die Figur der Marcela, Anas bester Freundin. Durch ihre Erinnerung lässt die Schriftstellerin uns auf erschütternde und realistisch wirkende Weise die Situation eines illegalen Schwangerschaftsabbruchs mit tödlichem Ausgang miterleben.

Claudia Piñeiros Roman ist interessant konstruiert und unterhaltsam geschrieben, weist allerdings in der zweiten Hälfte Redundanzen auf. Er ist besonders deshalb lesenswert, weil er eine mögliche Geschichte hinter der traurigen Schlagzeile vom tödlichen Schwangerschaftsabbruch erzählt.

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AUTOR/IN
Victoria Eglau