Rätselhaft-schöner Liebesfilm mit Starbesetzung

Zärtliche Utopie: „All of Us Strangers“ von Andrew Haigh

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Eva Marburg

Der britische Regisseur Andrew Haigh erzählt in seinen Filmen oft von schmerzhaften zwischenmenschlichen Konstellationen. In seinem neuen Film geht es um die Wiederbegegnung von Adam mit seinen toten Eltern, die er als Kind bei einem Verkehrsunfall verloren hat. Haigh stellt mit dem großartigen Andrew Scott in der Hauptrolle die ganz großen Fragen nach Liebe, Tod, Verlust und Trauer. Einer der nachdenklichsten und intensivsten Filme seit Langem.

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Geistergeschichte auf zwei Zeitebenen

Irgendetwas stimmt hier nicht, das merkt man von Anfang an. Adam lebt allein in einem Hochhaus mit Blick auf London. Er schreibt an einem Drehbuch, tippt die Zahl 1987. Adam ist einsam, bis er im Park einem Mann begegnet, den er nicht kennt oder vielleicht doch. Sie wirken vertraut. Er folgt dem Mann bis zur Haustür eines Einfamilienhauses. Die Frau, die herauskommt, hat offenbar auf ihn gewartet.

Dieser Film ist eine Geistergeschichte. Denn die beiden sind Adams Eltern, sie sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen als Adam zwölf Jahre alt war. In dem Haus ist alles noch wie 1987, sein Zimmer, die Einrichtung, seine Eltern, die jünger sind als er es jetzt ist.  

Filmstill (Foto: Walt Disney Company)
Verschobene Zeitebenen: Als Erwachsener lernt Adam seine Eltern kennen, die er als Zwölfjähriger bei einem Autounfall verloren hat.

Wiederbegegnung mit Toten

Die erstaunliche Geschichte von „All of Us Strangers“ erzählt eine Wiederbegegnung mit Toten: Adam lernt als Erwachsener seine verstorbenen Eltern kennen und sie ihn. Ist das eine Zeitreise? Ist die Begegnung echt oder spielt es sich nur in Adams Vorstellung ab?

Dieser ungewöhnliche und bewegende Film will irritieren und den Traum erzählen, dass man die Zeit zurückdrehen kann – und letztlich behaupten, dass der Tod nicht existiert und uns nicht trennt von geliebten Menschen. Im Kino geht das.

Aufarbeitung einer schweren Kindheit

Es macht glücklich dabei zuzusehen, wie Adam mit seinen Eltern alles nachholt. Sie führen Gespräche, die auch schmerzhaft sind: über seine queere Sexualität, die Enttäuschung der Mutter, einen schwulen Sohn zu haben.

Adams Einsamkeit als Kind nach dem Unfalltod der Eltern, sein Beruf, alles vertraut Adam ihnen nun an. Er kriecht im Kinderschlafanzug zu seinen Eltern ins Bett, die Mutter will wissen, wie genau sie gestorben ist. Sie schmücken gemeinsam den Weihnachtsbaum …

Filmstill (Foto: Walt Disney Company)
Regisseur Andrew Haigh erzählt eine fantastisch-übersinnliche Liebesgeschichte über eine Reise in die Vergangenheit, die zu einer Reise in die Zukunft wird.

Zeitgleich lernt Adam Harry kennen, der auch allein in dem Hochhaus wohnt – zwischen beiden entsteht schnell eine Nähe und Vertrautheit, eine große Intimität und Beziehung, für die Adam sich jetzt öffnen kann, weil die Trauer über den Tod seiner Eltern endlich vorbei ist.

Ein Film wie eine zärtliche Utopie

Doch das kann natürlich nicht gut ausgehen, in der wirklichen Welt kehren die Toten nun mal nicht zurück. Die Eltern gehen ebenso plötzlich, wie sie gekommen sind und Adam durchlebt den Schmerz des Verlusts noch einmal in voller Härte. Doch nun ist da Harry. 

„All of Us Strangers“ ist der intensivste und gleichzeitig nachdenklichste Film seit Langem. Er wagt einen mutigen Sprung in die ganz großen Themen: Liebe, Tod, Verlust und Trauer.

Ein Ereignis sind auch die Schauspieler, vor allem Andrew Scott als Adam, der gleichzeitig Kind und Mann ist. Ein Film also wie eine zärtliche Utopie, die vom Ende der Einsamkeit erzählt.  

Trailer „All of Us Strangers“, ab 8.2. im KIno

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