Geschichte einer Amour Fou

Kalkulierter Schock: „Im letzten Sommer“ von Catherine Breillat mit Léa Drucker

Stand
AUTOR/IN
Rüdiger Suchsland

Nach zehn Jahren hat die französische Regisseurin Catherine Breillat, Vertreterin der Nouvelle Vague, wieder einen Film gemacht. Er erzählt von der Amour Fou zwischen einer erfolgreichen Anwältin und ihrem Stiefsohn. Mit einer geradezu jugendlichen Lust an der Provokation fordert die mittlerweile 77-jährige Filmemacherin unsere moralische Gemütlichkeit heraus.

Retro-Hauch der 70er-Jahre

„Im letzten Sommer“ – der Titel dieses Films – hat die Unschuld eines Schulaufsatzes. Zugleich schwingt hier ein Hauch der 70er-Jahre mit, weichgezeichnete Filme mit jungen leicht bekleideten Menschen. Das alles kennzeichnet den neuen Film der französischen Regisseurin Catherine Breillat schon recht gut, und Breillat spielt offen mit den filmästhetischen Bezügen zu einer vergangenen Zeit mit ihren Werten und Empfindlichkeiten.

Filmstill (Foto: Alamode Film)
Anne (Léa Drucker) ist eine brillante Anwältin, die sich um minderjährige Missbrauchsopfer und Jugendliche in Schwierigkeiten kümmert. Bild in Detailansicht öffnen
Filmstill (Foto: Alamode Film)
Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Pierre (Olivier Rabourdin) und den beiden adoptierten Töchtern führt sie ein harmonisches Familienleben in einer Villa am Rand von Paris. Bild in Detailansicht öffnen
Filmstill (Foto: Alamode Film)
Dann zieht Théo (Samuel Kircher), Pierres 17-jähriger Sohn aus einer früheren Ehe bei ihnen ein. Das Familienidyll gerät schnell ins Wanken. Bild in Detailansicht öffnen
Filmstill (Foto: Alamode Film)
Denn Anne und der rebellische Teenager fühlen sich zueinander hingezogen – obwohl sie wissen, dass das nicht sein darf. Bild in Detailansicht öffnen
Filmstill (Foto: Alamode Film)
Schon nach kurzer Zeit entspinnt sich eine leidenschaftliche Affäre, die nicht nur ihre Familie, sondern auch Annes Karriere fundamental gefährdet. Bild in Detailansicht öffnen
Filmstill (Foto: Alamode Film)
Regisseurin Catherine Breillat erzählt in ihrem jüngsten Film nach zehnjähriger Leinwandpause eine explosive Liebesgeschichte und zeichnet das bewegende Porträt einer Frau, die mit einer verbotenen Liebesbeziehung ihr bürgerliches Leben aufs Spiel setzt. Bild in Detailansicht öffnen

Die 77-jährige Filmemacherin fordert ihr Publikum heraus

Das Werk von Catherine Breillat ist ohne seine politische Dimension nicht zu denken. Immer wieder sucht die von einer geradezu jugendlichen Lust an der Provokation getriebene, mittlerweile 77-jährige Filmemacherin die Empfindlichkeiten des Publikums, die Trigger-Punkte, an denen sie ihren Geschichten irritierende Kraft geben kann, mit denen sie unsere Wahrnehmungsgewohnheiten und unsere moralische Gemütlichkeit herausfordert.

So auch in diesem Fall: „Im letzten Sommer" beginnt wie ein ganz normaler, konventioneller französischer Autorenfilm. Im Zentrum der Geschichte: Anne, Anfang 50, gutaussehend und erfolgreiche Anwältin. Sie verteidigt vor allem sexuell missbrauchte Frauen und lebt ein zufriedenes Leben, wie es für diese Gesellschaftsschicht selbstverständlich ist: Landhaus, liebender Geschäftsmann als Partner, zwei Adoptivtöchter, Designermöbel und schicke Autos.

Filmstill (Foto: Alamode Film)
Schon nach kurzer Zeit entspinnt sich eine leidenschaftliche Affäre, die nicht nur ihre Familie, sondern auch Annes Karriere fundamental gefährdet.

Lolita-Stoff mit umgekehrten Rollen

Doch eines Tages zieht der 17-jährige Theo ein, der Sohn ihres Mannes aus dessen erster Ehe. Doch bald entpuppt sich der Stiefsohn als Unruhestifter: Er klaut, ist frech und rüpelhaft. Die Stiefmutter ist zunächst genervt, doch bald erliegt sie dem Charme der Jugend, den Theo ein bisschen kalkuliert, ein bisschen spielerisch einsetzt. Beide spüren die Zweideutigkeit der Situation, aber sie können nicht widerstehen.

Regisseurin Breillat nimmt also den schon ein wenig abgeschmackten „Lolita"-Stoff und haucht ihm kraftvolles neues Leben ein, indem sie die Rollen vertauscht.

Missbrauch oder weibliches Empowerment

Ist das nun noch Missbrauch oder ist es das Empowerment einer Frau, die sich einfach auch das nimmt, was sich Männer schon immer genommen haben? Oder ist nicht doch der 17-Jährige der eigentliche Verführer und die Frau die Schwache, die sich das Verlangen nach einem letzten Sommer nicht versagen will? Oder ist was wir sehen, einfach das ganz normale Leben, das eben aus vielen Grautönen besteht, nicht aus klarem Schwarz-Weiß?

Die Antwort ist hier in jedem Fall nicht eindeutig: Moralistinnen und Feministen aller Lager können sich darüber nach diesem Film die Köpfe heiß reden - schon das muss man an Breillats neuestem Streich unbedingt loben.

Kalkuliert eingesetzte ästhetische Schocks

Aber auch filmisch kann man viel schätzen: Denn „Im letzten Sommer" lebt von kalkuliert eingesetzten ästhetischen Schocks. Die Abwärtsspirale in die sich die Hauptfigur Anne begibt, besteht vor allem in der Idee des Surrealisten Georges Bataille, dass das echte Leben sich nur in der auch erotischen Selbstverschwendung ereignet.

Anne bleibt zugleich immer ein Mensch ihrer Klasse: Eine Privilegierte, die alles haben, aber nichts opfern will und bis zum Schluss mit allen Mitteln ihr bürgerliches Leben verteidigt.

Trailer „Im letzten Sommer“, ab 11.1. im Kino

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Rüdiger Suchsland