Eine gruppe russischer Männer am Grenzübergang nach Georgien (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance/dpa/AP | Zurab Tsertsvadze)

Debatte um Asyl für Deserteure

Russische Kriegsdienstverweigerer in BW: Noch keine Strategie in Sicht

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Martin Heer
Bild: SWR-Redakteur Martin Heer (Foto: Martin Heer)

Zehntausende Russen verlassen derzeit ihr Land. Während die Politik in Europa über ihre Aufnahme diskutiert, suchen viele Gemeinden in BW Lösungen und fordern Hilfe.

Mindestens 300.000 Reservisten will der russische Präsident Wladimir Putin für den Krieg in der Ukraine einziehen lassen. Seit der Ankündigung fliehen zahlreiche russische Staatsbürger ins Ausland. Rund 10.000 am Tag kommen allein im benachbarten Georgien an, doch es reisen auch immer mehr Menschen in die EU ein. Am Dienstag stellten in Stuttgart die ersten Männer Antrag auf Asyl mit der Behauptung, russische Kriegsdienstverweigerer zu sein. Politikerinnen und Politiker in Deutschland sprechen sich überwiegend für den Schutz russischer Deserteure aus. Konkrete Vorgaben gibt es dazu allerdings noch nicht.

Schutz für russische Kriegsdienstverweigerer oder nicht? Nach deutschem Asylrecht ist das nicht eindeutig klar. Letztlich werden darüber die Gerichte entscheiden, sagt Gigi Deppe aus der SWR-Rechtsredaktion:

Baden-Württemberg will europäische Regelung

Die Flucht vor einer Einberufung in den Krieg sei auch ein Beitrag, diesen zu beenden, ist der baden-württembergische Staatssekretär für Migration, Siegfried Lorek (CDU), überzeugt. Der Umgang mit geflüchteten Reservisten sei für ihn allerdings eine gesamteuropäische Frage. Am Montag konnte sich die EU noch auf keine einheitliche Linie einigen. Vor allem Finnland und die baltischen Staaten wehren sich gegen die Aufnahme und befürchten Sicherheitsrisiken. Offen zeigen sich Frankreich und Deutschland. Alleine könne die Bundesrepublik das aber nicht leisten, sagte Lorek vergangene Woche. Es fehlten die Unterbringungsmöglichkeiten: "Es wäre schlicht unseriös zu versprechen, jeden russischen Mann, dem in Russland die Einziehung droht, hier ebenfalls noch aufzunehmen."

Kretschmann: "Wir kommen an die Kapazitätsgrenze"

Seit Beginn des russischen Angriffskriegs habe Baden-Württemberg über 128.000 Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) am Dienstag in Stuttgart. Dazu kämen 14.000 Geflüchtete aus anderen Staaten. "Jetzt muss man ehrlicherweise sagen: Das hat das Land bisher mit Hilfe der Kommunen und der Bürgerschaft, die sehr engagiert ist, gut bewältigt. Wir kommen jetzt allerdings an die Kapazitätsgrenze." Zuletzt schloss Baden-Württemberg ein Aufnahmestopp für Geflüchtete nicht mehr aus.

Flüchtlinge in einer Notunterkunft (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance/dpa | Felix Kästle)
Es fehlt an Platz - viele Gemeinden greifen auf Hallen als Notunterkünfte zurück, wie hier in Radolfzell am Bodensee (Kreis Konstanz).

Kommunen haben kaum noch Platz für Geflüchtete

Baden-Württemberg habe dieses Jahr bereits mehr Schutzsuchende aufgenommen als im gesamten Jahr 2015, gibt Christopher Heck, Referent des Gemeindetags, zu bedenken. "Die Kommunen sind bei der Aufnahme an der Belastungsgrenze dessen, was leistbar ist", sagte er. Es fehle an Platz, sowohl in den Erstaufnahmestellen als auch in den vorläufigen Unterbringungen. Nun werde auf Hallen zurückgegriffen, auch Container und Zelte müssten notfalls genutzt werden - und das trotz des anstehenden Winters. Es bleibe eine große Herausforderung, noch weitere Menschen in Baden-Württemberg unterzubringen. Kurzfristig brauche es dringend mehr Raum, langfristig eine gerechte Verteilung auf EU-Ebene.

"Die Kommunen sind bei der Aufnahme an der Belastungsgrenze dessen, was leistbar ist"

Bundeseinheitliche Regelung gefordert

Was die russischen Kriegsdienstverweigerer anbelangt, sei dies aus kommunaler Sicht allerdings noch kein Flächenthema, so Heck. Letztlich liege die Zuständigkeit in der Frage klar beim Bund. Die Ansicht teilt die Stadt Stuttgart und sieht derzeit keine Möglichkeit, russische Kriegsdienstverweigerer unterzubringen. "Klar ist, dass es noch keine rechtlichen Vorgaben gibt, wie man mit solchen Menschen genau umgehen kann“, sagte Stadtsprecher Sven Matis dem SWR.

Die Zahl russischer Asylsuchender hält sich noch in Grenzen. Von Januar bis August haben laut Justizministerium 89 Personen aus Russland in Baden-Württemberg um Schutz gebeten. Im September waren es bislang 22 (Stand 29.9.). Wie viele davon Kriegsdienstverweigerer sind, ist im Ministerium nicht bekannt, dafür sei das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zuständig.

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Faeser und Scholz sprechen sich für eine Aufnahme aus

"Ich bin dafür, diesen Menschen Schutz anzubieten", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Zuvor hatte sich Bindesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) für die Aufnahme russischer Kriegsdienstverweigerer ausgesprochen: "Ich finde es wichtig, wenn es jetzt Menschen gibt, die sich in Russland gegen die Teilmobilisierung wenden und nicht in den Krieg gegen ihr Nachbarland […] ziehen wollen, dass wir auch solchen Deserteuren vorübergehend eine Heimat in Deutschland bieten." Ob bei einem Asylantrag Schutz gewährt wird, sei derzeit aber eine Einzelfallentscheidung, bei der auch eine Sicherheitsüberprüfung erfolge. Wie die Kommunen angesichts der angespannten Lage unterstützt werden können, will die Ministerin am 11. Oktober bei einem Flüchtlingsgipfel beraten.

Flüchtlingsorganisationen sprechen von Scheindebatte

Die Flüchtlingsorganisation "PRO ASYL" kritisierte die Diskussion um die Aufnahme russischer Deserteure als "Scheindebatte". Die EU-Staaten hätten vor kurzem die Einreise für russische Staatsbürger erschwert, Asyl könne nur bekommen, wer deutschen oder europäischen Boden betrete. In einer Pressemitteilung schreibt die Organisation: "Solange die EU-Staaten hermetisch ihre Grenzen […] abriegeln, haben auch die angeblich erwünschten Kriegsdienstverweigerer und Deserteure keine Chance." Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg, ein unabhängiger Verein, schließt sich der Einschätzung an.

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