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Guter Sex und Lustlosigkeit – Was ist normal? (4/4)

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Lukas Meyer-Blankenburg
Lukas Meyer-Blankenburg (Foto: SWR, Oliver Reuther)
Silvia Plahl
Silvia Plahl (Foto: SWR, privat)
Sonja Striegl

Schlechter Sex, den kann jeder haben. Doch was ist wirklich guter Sex?

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Er kommt und sie hat keine Schmerzen: keine Definition für guten Sex

Sex muss man lernen. Gerade wir Erwachsenen müssen uns das oft erst noch eingestehen. Denn manche Vorstellungen halten sich hartnäckig. Das führt beispielsweise leider dazu, dass viele gerade jüngere Frauen und Mädchen immer noch sagen: „Guter Sex ist, wenn er kommt und wenn es mir nicht weh tut.“ Und dafür tragen wir Erwachsene, die ältere Generation die Verantwortung, denn wir müssen vermitteln: Guter Sex, das ist wesentlich mehr. Und der Weg dahin führt über Wissen und Aufklärung – und zwar von Jung und Alt.

Ist viel Sex gut?

Im großen Freizeitreport 2019 heißt es: „Nur knapp über die Hälfte der Deutschen – 52 Prozent – hat wenigstens einmal pro Monat Sex. Vor fünf Jahren waren es immerhin noch 56 Prozent. Grund sei der Freizeitstress, immer weniger nähmen sich Zeit für Sex und Erotik. Aber auch die Suche nach Perfektion sei ein Grund für den Mangel an Schäferstündchen, denn der Leistungsdruck würde auch im Bett immer größer.“ Doch führen nicht genau solche Zahlen zu unnötigem Druck?

In einer weiteren Studie aus dem Jahr 2017 gaben die Männer an, sie hätten rund zehn verschiedene Sexualpartner; die Frauen gaben etwas mehr als fünf an. Doch wie soll das rein rechnerisch gehen? Woher kommt die Diskrepanz? Die zeigt sich im übrigen auch in Studien, die in den USA oder in Großbritannien erhoben wurden. Die vorsichtige Erklärung der Wissenschaftler: „Prinzipiell ist bei Angabe von Sexualverhalten von selbstwertdienlichen Erinnerungsverzerrungen und Tendenzen der Selbstdarstellung auszugehen.“ Warum halten es so viele Männer immer noch für die „Norm“, viele sexuelle Kontakte oder oft Sex zu haben?

Sie mit Kittel am Herd, er mit Zeitung am Tisch: Im Vergleich zu früher handeln Paare heute ihre eigenen Normen aus - das gemeinsame Verhandeln über Lust und Sex ist das, was den partnerschaftlichen Sex kennzeichnet (Foto: IMAGO, IMAGO / allOver-MEV)
Im Vergleich zu früher handeln Paare heute ihre eigenen Normen aus – das gemeinsame Verhandeln über Lust und Sex ist das, was den partnerschaftlichen Sex kennzeichnet

Ist Sex wirklich gesund?

Ein weiteres Klischee ist, dass Sex gesund ist und deshalb „gemacht“ werden muss. Doch Sex aus gesundheitlichen Gründen ist ungefähr so sexy wie heiraten aus Steuergründen. Aber natürlich stimmt es. Guter Sex tut dem Körper gut, das ist wie beim Sport. Urologen raten älteren Männern mit wachsender Prostata zum Beispiel ganz konkret, mehr Sex zu haben oder mehr zu onanieren. Stress wird abgebaut, Glückshormone ausgeschüttet, das Immunsystem wird stärker.

Guter Sex mit der Partnerin, mit dem Partner kann die Beziehung vertiefen, die Bindung stärken. All das stärkt uns körperlich, mental und seelisch. Aber: Vor dem guten Sex miteinander steht die Lust aufeinander. Und wenn die nicht da ist, dann sollte man sich was überlegen – und zwar bestimmt nicht, Sex zu fordern, weil er gesund ist. Das baut Druck auf und verstärkt eher die Unlust.

Wie findet man zur eigenen Sexualität?

Das Verhandeln über Lust und Sex ist das, was den partnerschaftlichen Sex heutzutage kennzeichnet, sagt der Merseburger Sexualwissenschaftler Konrad Weller. Es ist nicht mehr so relevant, was jemand tut und wie man es tut, sondern das Entscheidende ist, dass zwei sich einig sind, dass also ein Konsens ausgehandelt wird. Paare reden miteinander und klären, was sie wie miteinander machen möchten. Sie entwickeln ihre eigenen Normen.

Viele Studien betonen, dass die jüngeren Generationen aufgeschlossen sind für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt. Genau das kann uns davor bewahren, von den Normen "der Frauen" oder "der Männer" sprechen zu müssen. Dann geht es tatsächlich um die individuellen Wünsche und Bedürfnisse jeder einzelnen Person. Und zu Wünschen und Bedürfnissen kann auch gehören, für eine kürzere oder längere Phase mal keinen Sex zu wollen.

Die Häufigkeit der Sexualität hängt vor allen Dingen nicht so sehr vom Lebensalter ab, sondern von der Beziehungsdauer, so Sexualwissenschaftler Weller. Die jungen, frisch verliebten Leute, die können auch 60 sein: Wenn sie frisch verliebt sind, haben sie relativ häufig Sex. Und nach einigen Jahren nimmt die Leidenschaft ab. Das ist ein gut gesicherter Befund.

Ein Körper umarmt sich selbst: Sexologinnen und Sexualtherapeuten sind der Ansicht, dass mehr Fühlen, Spüren und Berühren heute ein Schlüssel dafür sein können, um zur eigenen Liebesfähigkeit und zum „guten Sex“ zu finden (Foto: IMAGO, IMAGO / Cavan Images)
Sexologinnen und Sexualtherapeuten sind der Ansicht, dass mehr Fühlen, Spüren und Berühren heute ein Schlüssel dafür sein können, um zur eigenen Liebesfähigkeit und zum „guten Sex“ zu finden

Wie viel hat Sex mit Erwartung zu tun?

Die Sexologin Ann-Marlene Henning ermuntert in ihrer Praxis die Paare, die Umstände anzuschauen, unter denen der Sex stattfinden soll, und sie sollen sich nicht mit der Erfüllung von irgendwelchen Normen belasten. Sie als Therapeutin wertet die Bedürfnisse der Paare nicht, sondern fragt nach: Was wollt ihr denn? – Und dann stellt man fest: Oft ist das nicht das Gleiche. Und dann geht es darum, das Maß zu finden, wo beide sagen: Das wäre toll. – Überhaupt sind es Erwartungen, die das sexuelle Miteinander belasten.

Die Erwartungen haben heute allgemein zugenommen und die Zufriedenheit ist immer ein Quotient aus Erreichtem und Erwartetem, so der Sexualwissenschaftler Konrad Weller. Wir erwarten vor allen Dingen viel mehr als früher, also zum Beispiel leidenschaftliches, orgiastisches Miteinander. Dieses Paradigma hat sich in Europa erst mit der sexuellen Liberalisierung entwickelt. Deshalb sind wir unterm Strich nicht zufrieden, obwohl viel mehr passiert als vielleicht vor 50 oder 60 Jahren.

Kann man guten Sex lernen?

Paare, die lange zusammen sind und eine zufriedene Sexualität miteinander haben, entwickeln oft eigene Rituale. Manche verabreden sich und halten den Sonntagvormittag frei, andere probieren Slow Sex ohne Orgasmus-Zwang.

Der Tantra-Lehrer Saranam Ludvik Mann aus „Europas ältester Tantraschule“ ist ein Enkel des Schriftstellers Heinrich Mann – ihn interessieren die philosophischen wie auch die neurowissenschaftlichen Aspekte der Sexualität. Genauso wie viele Sexologinnen und Sexualtherapeuten glauben auch er und seine Partnerin, dass mehr Fühlen, Spüren und Berühren heute ein Schlüssel dafür sein kann, zur eigenen Liebesfähigkeit und zum „guten Sex“ zu finden. Laut Mann muss Zärtlichkeit heute überhaupt erstmal gelernt und erfahren werden.

Ähnlich beschreibt es die Hamburger Philosophin Bettina Stangneth, die mit ihrem aktuellen Buch „Sexkultur“ eine Diskussion darüber angestoßen hat, ob wir gerade zu einer neuen „Sex-Kultur“ finden. Sie macht deutlich, wie sehr wir immer noch vom abendländischen Denken geprägt sind, dass Körper und Geist angeblich zwei verschiedene Dinge sind, und wie stark die Vorstellung ist, Sex sei vor allem etwas Triebhaftes.

Der Gedanke, dass Sex eine Kulturfrage ist, ist dagegen sehr reizvoll. Vielleicht finden wir abseits von dem Reden über all die Probleme, die mit Sex einhergehen, zu einer Sexkultur, die weniger schambehaftet ist, unbefangener und die auch begreift, wie sehr Sex ein intellektuelles und ein körperliches Vergnügen sein kann. Das Ringen um neue Normen hat längst begonnen und der beste Platz dafür ist: das gemeinsame Bett.

SWR 2021 / 2022

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