Buchkritik

Karen Duve – Sisi

Stand
AUTOR/IN
Julia Schröder

Sie war der erste Popstar des europäischen Hochadels, eine Legende schon zu Lebzeiten und nach ihrem gewaltsamen Tod erst recht: Kaiserin Elisabeth von Österreich – Sisi. Am Porträt dieser ebenso faszinierenden wie zwiespältigen Frau versucht sich der neue Roman von Karen Duve.

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Wer war Kaiserin Elisabeth von Österreich? War sie der herzige Wildfang, der sich plötzlich in eine Welt der Etikette und der Intrigen versetzt sieht, den die „Sissi“-Filme mit Romy Schneider zeigten? War sie das anorektische Opfer ihres eigenen Schönheitskults, eine Frau im höfischen Korsett, die sich kleine Fluchten auf halsbrecherischen Jagden, in der Zirkusreiterei und in inszenierten Liebschaften gestattete? War sie die großherzige Freundin ihrer Hofdamen, junger Mädchen in der Verwandtschaft und ihres Cousins, des unglücklichen Märchenkönigs Ludwig II. von Bayern oder bloß süchtig nach Bewunderung? War sie die Schutzpatronin des ungarischen Teils der Habsburgermonarchie, die alterslos jugendliche Kaiserin und Königin der Herzen ihrer Untertanen oder eine narzisstische Neurotikerin? Oder war sie vielleicht all dies zusammen?

In ihrem neuen Roman „Sisi“ strickt Karen Duve nicht etwa eine weitere Schicht von Gerücht und Geraune um die Heldin, sondern unternimmt eine Art literarischer Entmythologisierung. Literarisch deshalb, weil Duve vor allem erzählt und nicht explizit wertet, auftrumpfend entlarvt oder karikiert. Das ist auch gar nicht nötig. Elisabeths Leben als Superstar avant la lettre in den letzten Jahrzehnten imperialer Monarchie war für sich genommen schon derart aufgeladen von Übertreibung, Aufwand, Verschwendung, von wuchernden Regeln und Zwängen, dass seine Verarbeitung keine Spezialeffekte benötigt, um zu fesseln.

Ein Ausschnitt des Ölgemäldes von Franz Xaver Winterhalter zeigt Elisabeth, Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn, die Sisi genannt wurde (undatiertes Archivbild) (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance / dpa | Bernhaut)
Ein Ausschnitt des Ölgemäldes von Franz Xaver Winterhalter zeigt Elisabeth, Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn, die Sisi genannt wurde (undatiertes Archivbild)

Exemplarisch die Szenen in der ungarischen Residenz Gödöllö, wohin Elisabeth ihre Nichte Marie Louise Wallersee einlädt. Die junge Frau bestaunt die Pferdeställe, ausgestattet mit ionischen Marmorsäulen. Ihrem Pony geht es ebenso:

Sullivan starrt verwirrt in seinen roten Marmortrog und auf die bronzierte Raufe, aber dann nimmt er beides hin, wie er alles hinnimmt, und zupft ein paar Halme Heu. Vierunddreißig Reitpferde stehen im Marmorstall – alle zur Verfügung der Kaiserin. Mindestens noch einmal so viele Wagenpferde gibt es, und wenn der Kaiser für die Oktoberjagden eintrifft, werden auch seine Pferde noch hinzukommen. (…) Die Tage verlaufen sehr ruhig. Außer der Kaiserin, Erzherzogin Valerie, Herzog Ludwig und seiner Familie ist niemand im Schloss. Nur noch die Hofdame Festetics, Titularbischof Jácint János Rónay, die Scherak und ein paar Hundert Bedienstete.
(Aus: Karen Duve – Sisi)

Es ist das Jahr 1876, die Kaiserin hat das Frühjahr mit Fuchsjagden und Parforce-Ritten auf englischen Adelssitzen verbracht, hat mit dem berühmten Reiter Bay Middleton geflirtet und die englische Königin Victoria brüskiert. Zurückgekehrt, nimmt sie die gerade 18-jährige Marie Louise, Tochter ihres ältesten Bruders Ludwig, unter ihre Fittiche. Das hübsche Mädchen entstammt einer unstandesgemäßen Ehe des Wittelsbacher-Herzogs mit einer Schauspielerin, doch Sisi bedenkt „die kleine Wallersee“, wie sie am Hof heißt, mit besonderen Gunstbezeugungen.

Bald entwickelt sich das ebenso sportliche wie hübsche und musikalische Mädchen zum jüngeren Ebenbild seiner 38-jährigen Tante. Ein Jahr geht das mehr oder weniger gut, Marie Louise liegt der Tante zu Füßen und sonnt sich in deren Glanz, Sisi wiederum spannt die Nichte gern für ihre Kapricen ein. Doch am Ende manipuliert sie die allzu umschwärmte jüngere Konkurrenz in eine standesgemäße Ehe.

Es geht auch nicht an, dass du unverheiratet bist, wenn du mich weiterhin in Gödöllö besuchst. Jedenfalls nicht, wenn du zu unserem kleinen Kreis gehören willst. Es ist zu unbequem, stets auf dich aufpassen zu müssen. Ein harmloser, netter Gatte wird unser Zusammensein nicht behindern.
(Aus: Karen Duve – Sisi)

Anderthalb Jahre umfasst der Roman, von denen im Präsens erzählt wird, ergänzt mit Rückblenden auf bezeichnende Episoden. Mit einer englischen Jagdsaison beginnt er und endet mit Sisis Planungen für eine weitere. Die blutigen, grausamen und rücksichtslosen Rituale der Jagd in England und in österreichischen Revieren nehmen auffallend viel Raum ein für ein Buch, das am Vorabend der europäischen Belle Epoque spielt.

All die zerrissenen Füchse, totgehetzten Hirsche, geprügelten Hunde und stürzenden Pferde, die schweren Verletzungen auch, die den Reitern und Reiterinnen drohen – mit zuweilen sardonischer Lakonie in der Schilderung macht die bekennende Tierrechtlerin Duve die Jagd zum Spiegel einer moralisch erledigten Gesellschaftsform.

Nun gilt es, die Gämsen einzusammeln und die Strecke zu legen. Achtunddreißig tote Tiere sind es diesmal. Das ist ein schöner Ausdruck repräsentativer Lebenslust, aber es gab auch schon mal Strecken mit weit über vierzig Gämsen.
(Aus: Karen Duve – Sisi)

Die Autorin legt im Anhang die Fülle ihrer Quellen offen, darunter historische Darstellungen und viele Zeugnisse von Zeitgenossen und engen Vertrauten. Dieses so unterschiedlich gefärbte, voreingenommene, geschönte Material verteilt Karen Duve recht geschickt auf ein überschaubares Tableau von Hauptfiguren im Wimmelbild des Hoflebens, deren Perspektiven sie unmerklich ineinander übergehen lässt.

Sisis rastlos nervöse – damit sehr moderne – Versuche, das Repräsentative auf die Spitze zu treiben und zugleich gewisse Residuen persönlicher Freiheit zu behaupten, kontrastieren mit der starren Ordnung der Dinge, die sich in Kaiser Franz Joseph manifestiert, und dem Wien der einfachen Leute, wie seine zeitweilige Liebschaft Anna Heiduck es verkörpert.

Vieles erinnert an die kürzlich ins Gedächtnis gerufene Konfrontation zwischen Lady Di und dem britischen Königshaus. Diana starb vor 25 Jahren einen frühen Unfalltod. Elisabeth durfte immerhin noch ihren Sechzigsten feiern, bevor Luigi Lucheni ihr 1898 in Genf sein Stilett ins Herz rammte.

Karen Duves Roman endet allerdings zwei Jahrzehnte zuvor. Ein vollständiges Lebensbild seiner Protagonistin abzugeben, beansprucht er nicht. Vielmehr ist „Sisi“ die flimmernde Momentaufnahme einer ungewöhnlichen Frau in ihrer Zeit.

Trotz seiner vielen Qualitäten hinterlässt das Buch, mit all dem Hin und Her zwischen Salons, Ballsälen, Pferdeställen, Parks und Jagdgelände, aufs Ganze gesehen den Eindruck rasenden Stillstands. Aber vielleicht ist genau dies der Kern der Geschichte.

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