Hoffnung in Leid und Krise: Bieten Glaube, Kirche und Religion noch Halt?

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Moderator Jens Wolters aus dem SWR1 Team moderiert regelmäßig die Sendung SWR1 Leute mit spannenden und interessanten Gästen (Foto: SWR)
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Dorothee Zeißig aus dem SWR1 Team  (Foto: SWR)

Viele Menschen fühlen sich in der Krise, aber die Zahl der Kirchenaustritte steigt. Martina Kumlehn, bieten Glaube, Religion und Kirche noch Halt und Trost im Leid?

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Martina Kumlehn ist evangelische Theologin und beschäftigt sich unter anderem mit dem Umgang mit Krisen und wie wir uns, die Welt und Gott neu sortieren. Eigentlich wollte sie Religionslehrerin werden, sie selbst wurde mit der Volkskirche sozialisiert und setzte sich schon immer mit existenziellen Fragen auseinander. Weil sie aber immer Interesse an wissenschaftlichen Fragen hatte, promovierte sie und wechselte an die Universität Bonn. Inzwischen arbeitet Martina Kumlehn an der Universität Rostock mit Studierenden; eine Arbeit, die sie sehr reizvoll findet.

Im Rheinland gehören die Kirche und religiöses Leben stärker unhinterfragt dazu und das ist in Rostock anders. Aber das ist auch eine Chance: Es versteht sich nicht von selbst und das fordert einen auch heraus, selber genauer sagen zu können, warum das wichtig ist.

Krisen und Katastrophen: Was ist eine Krise?

Die Wurzeln des Begriffs "Krise" lägen in der Antike, im juristischen Bereich, sagt Kumlehn. Der Begriff stehe dafür, zu entscheiden, zu kämpfen und kritisch zu einem Urteil zu finden. Im Alten und Neuen Testament in der Bibel wird "Krise" auf das Welt-Ende bezogen, in der Medizin bezeichne der Begriff den Zeitpunkt zwischen Leben und Tod, an dem man durch Entscheidungen noch etwas ändern könne. Seit der Aufklärung werde der Begriff auch im politischen Bereich verwendet; er sei der "Motor der Moderne", so Kumlehn.

Krise meint eigentlich immer: Wir können noch etwas gestalten.

Im Gegensatz dazu habe man bei einer Katastrophe nur noch wenig bis keinen Handlungsspielraum mehr. Oft sei der Übergang zwischen einer Krise und einer Katastrophe aber fließend.

Religion: Halt in der Krise?

Für Martina Kumlehn ist Religion eine Kulturform, die bestimmt, wie sich Menschen den Dingen gegenüber verhalten, die sie nicht beeinflussen können. Eine religiöse Haltung gehe davon aus: Ich bekomme Gutes oder Schlechtes geschenkt – und dann gehe es in die Eigenverantwortung. Zudem liefere Religion einen Grund und einen Sinn für das Sein.

Wenn ich ein solches Grundvertrauen ausbilden kann, dann ist das eine Kraftquelle.

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"Beten ist eine Art des Innehaltens"

Beim Beten, sagt Kumlehn, können sich Menschen darüber klarer werden, wofür sie danken können, was nicht selbstverständlich ist im Leben. Ihrer Meinung nach braucht Glaube zwar Institutionen wie die Kirche, die Deutungen anbieten und die Religion pflegen, aber er sei auch eine zutiefst individuelle Sache: eine "Kontingenzbewältigungsstrategie", bei der Ängste zur Sprache kommen sowie Erzählungen und Deutungen angeboten werden, die Hoffnung bieten. Gläubige Menschen haben laut Kumlehn mehr Möglichkeiten, aus Schweigespiralen herauszufinden, innezuhalten und sich Worte zuspielen zu lassen, wenn ihnen eigene Worte fehlten. Ein Garant sei das aber nicht.

Die "Theodizee Frage": Warum lässt Gott Leid zu?

Gleichzeitig räumt sie ein, dass es auf die Theodizee-Frage, also die Frage, wieso ein liebender Gott Leid zulasse, nach wie vor keine allgemeingültige, befriedigende Antwort gebe. Es gebe verschiedene Erklärungsansätze, beispielsweise sei das Böse der Preis für den freien Willen des Menschen. Zudem sei diese Frage eng mit dem eigenen Gottesbild verknüpft: So gebe es in der Bibel verschiedene Gottesbilder und den Glauben daran, dass sich bei allem Übel und Leid am Ende die Liebe durchsetzt.

Für Kumlehn können Krisen aber auch zu etwas Gutem führen: Sie sorgen für eine "Entsicherung", stellen Gewohntes in Frage und zwingen uns zum Handeln und dazu, neue Entscheidungen zu treffen. Als Beispiel führt sie die Corona-Pandemie an, in der sich viele Menschen auf das Wesentliche konzentriert hätten, darauf, was wirklich wichtig ist.

Wichtig sei allerdings: Niemand solle Menschen, die einen schweren Schicksalsschlag erlitten haben, sagen, dass ihre Krise bestimmt einen Sinn hätte.

Da muss man wirklich aufpassen bei schweren Krankheiten, bei schweren Leiderfahrungen, nicht von außen zu sagen: "Das hat alles einen Sinn." Wenn, dann können Menschen nur durch ihre eigenen Erfahrungen hindurch [...] dem einen Sinn geben.

Leid und Krisen in der Bibel

Die Bibel sei voller Krisenerzählungen, so Kumlehn. Mit diesen Geschichten könne man sich identifizieren und sich davon inspirieren lassen, wie die Menschen mit Leid umgegangen sind. Als Beispiel nennt sie die Geschichte vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten (Exodus): Hier wird eine Fluchtgeschichte im Rückblick erzählt und mit Sinn gedeutet. Auch die Psalmen könnten uns in alltäglichen Krisen und Leid helfen: Die Psalmen sind Lyrik und bieten eine Sprache für Zeiten, in denen Worte fehlten, so Kumlehn – Worte für das Staunen, das Danken, aber besonders auch fürs Klagen. Ihrer Meinung nach können die biblischen Geschichten also auch heute noch Trost und Inspiration für den Umgang mit Krisen und Leid bieten.

Ist die Kirche noch zeitgemäß?

Auch Martina Kumlehn beobachtet, dass immer mehr Menschen in den vergangenen Jahren aus der Kirche ausgetreten sind. Das überrascht sie nicht: Denn die Kirche stehe heute in Konkurrenz zu andern spirituellen Deutungsangeboten. Zudem können Religionen selbst Krisen auslösen, wenn Menschen sie für ihre politischen Ziele missbrauchen und wenn fundamentalistische Religionsangehörende Gewalt ausüben.

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Ihrer Meinung nach muss die Kirche immer wieder offenlegen, welchen Sinn Religion und Glaube haben. Außerdem müsse sich die Kirche verändern: Sie muss sich überlegen, was Religion ausmacht, was sie der Gesellschaft zu bieten hat. Dafür steige der Handlungsdruck. Trotzdem hält sie die Institution Kirche weiterhin für zeitgemäß, weil sie die Institution sei, die den Raum für existenzielle Fragen offenhält, an Zukunftsoffenheit mitarbeitet, weil sie Trost bietet ohne zu vertrösten. Vor allem bei Lebensübergängen bleibe die Kirche auch für konfessionslose attraktiv, so Kumlehn.

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