Medizin in Deutschland: Fürsorgepflicht oder Wirtschaftszweig?

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Medizinethiker Prof. Giovanni Maio analysiert in SWR1 Leute die Krankenhausreform von Gesundheitsminister Lauterbach, den Umgang mit der Corona Pandemie & die Aufgaben der Medizin.

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Krankenhausreform von Lauterbach: der richtige Weg?

Vor dem Hintergrund des Krankenhaussterbens im Land, der anstehenden Krankenhausreform von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und der immer weiter fortschreitenden Ökonomisierung der Medizin mit großen, profitorientierten und international agierenden Gesundheitsunternehmen wird die Frage nach dem Sinn der Medizin immer wichtiger.

Die Krankenhausreform ist das Heizungsgesetz der Medizin. Es ist viel zu komplex, niemand versteht das und am Ende weiß niemand, was dabei 'rauskommt.

Stuttgart

Dr. Thomas Strohschneider | 10.10.2023 Ex-Chefarzt analysiert: Krankenhausreform von Lauterbach die Lösung?

Dr. Thomas Strohschneider sieht unser Gesundheitssystem gefährdet. Hilft die Krankenhausreform von Gesundheitsminister Lauterbach und was bedeutet sie für Patient:innen und Personal?

Leute SWR1 Baden-Württemberg

Was ist der Sinn der Medizin: Profit oder Mensch?

Gleichzeitig gab es selten so viele Innovationen im medizinischen Bereich: Robotik, zielgerichtete Therapie und Genomforschung eröffnen neue therapeutische Wege, kosten aber auch eine Menge Geld. Für uns als Gesellschaft stellt sich die Frage: Müssen wir uns Gesundheit leisten können? Oder leisten wollen? 

Wir müssen die Medizin dort belassen, wo tatsächlich die Professionellen entscheiden, was notwendig ist. Wir dürfen nicht über ökonomische Anreize eine Steuerung der Versorgung vornehmen, das ist falsch. Es sind die Patienten, auf die man reagieren muss. [...] Wir brauchen eine gerechte Versorgung in unserer Gesellschaft und das können ökonomische Zahlen einfach nicht gewährleisten.

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Klare Position in der Corona Pandemie

Prof. Dr. Giovanni Maio hat sich in vielen wichtigen Fragen der Medizinethik bereits klar positioniert: Beispielsweise sprach er sich während der Pandemie klar gegen die 2G- und 3G-Regeln und eine Impfpflicht aus, plädierte stattdessen für mehr Aufklärung.

Man hätte damals nicht nur auf die Virologen, sondern auch die Psychologen und Soziologen hören müssen, welche Folgewirkungen es hat, wenn unsere Bundeskanzlerin quasi sagt 'Ihr müsst jeden Menschen so behandeln, wie wenn er schon infiziert wäre'. Das war eine Katastrophe.

Prof. Giovanni Maio: ein anderes Verständnis von Mensch und Patient

Daraus entwickelte Prof. Giovanni Maio den Ansatz der "Ethik der Verletzlichkeit": Ihm geht es darum, die Verletzlichkeit des Menschen zu akzeptieren und einen anderen, verständnisvollen Blick darauf zu richten. 

Der Mensch ist ein soziales Wesen, das nur dann gut leben kann, wenn es auf eine Medizin stößt, die sich als 'Beziehungsmedizin' begreift. Eine Medizin, die diese individuellen Sorgen erst einmal anhört, um dann darauf zu reagieren [...] und nicht einen Effizienz-Druck zu implementieren, der dazu führt, zu sagen 'so wenig Zeit, so wenig Kontakt wie möglich'.

Die Patienten "einfach nur zu informieren" genüge nicht, sagt Maio am Beispiel einer Krebsdiagnose. In erster Linie bräuchten die Menschen dann Zuwendung. Da mache die heutige Medizin einen großen Fehler, indem sie sich rein auf das Formale konzentriere und dem Gespräch mit den Patienten keine Zeit einräume.

Unfallchirurgin Dr. Sara Aytac Oberärztin warnt: "Schockierende Zustände in unseren Krankenhäusern"

Dr. Sara Aytac, Oberärztin aus Idar-Oberstein, hat schon viele Krankenhäuser von innen gesehen. Mehrere Monate tourte sie als Honorarärztin durch städtische, private und kirchliche Krankenhäuser. Ihr Fazit: Das Leiden der Betroffenen und der ökonomische Irrsinn sind überall gleich.

Leute SWR1 Rheinland-Pfalz

Denkfehler: der Mensch ist nicht "seines eigenen Glückes Schmied"

Prof. Giovanni Maio ist Medizinethiker an der Universität in Freiburg. Er wurde in Italien geboren, aufgewachsen ist er ab dem siebten Lebensjahr in Baden-Württemberg. In Freiburg hat er Medizin und Philosophie studiert und sich dann auf die Medizinethik spezialisiert. Er war Mitglied der zentralen Ethikkommission der Bundesregierung und ist Mitglied im Ethikausschuss der Bundesärztekammer.

Der Denkfehler unserer Zeit ist, 'wir haben alles im Griff, wir müssen nur richtig entscheiden und dann werden wir glücklich'. Das ist falsch – wir können nicht glücklich werden ohne die anderen.