Eric Friedler, SWR Hauptabteilungsleiter Doku

„So entsteht ein filmischer Kosmos an Weltbetrachtung: traumversessen und wahrhaftig.“

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Eric Friedler
Eric Friedler, Hauptabteilungsleiter SWR Doku
Eric Friedler, Hauptabteilungsleiter SWR Doku

Im Rayon der Aufmerksamkeit: Wahrhaftigkeit, nicht Faktentreue Für Werner Herzog -  Preisträger des Ehrenpreises des Deutschen Dokumentarfilmpreises

Er war eine große Strecke gegangen. Im Winter 1974 von München nach Paris. Eine Wanderung, um dem Tod zu widersprechen, der die verehrte Lotte Eisner, Meisterin der Filmhistoriografie, bedrängte. Erschöpft vom Gehen im Eis, dem Blitz und Donner außen, der Beklemmung und Bitternis innen, ließ Werner Herzog, endlich angekommen auf der Avenue des Champs Élysées, den Blick schweifen. Was sah er? Und notierte es dann?

»Mehrere Kellner nahmen die Verfolgung eines Hundes auf, der aus einem Café davongelaufen war. Ein leichter Anstieg war einem alten Mann zu steil geworden und er schob das Rad, schwer gehend und hinkend und keuchend. Schließlich kommt er hustend zum Stehen, er kann nicht mehr. Hinten auf dem Gepäckträger hat er ein tiefgefrorenes Hähnchen aus dem Supermarkt festgeklemmt.«

Eine beiläufige Beobachtung, so könnte man meinen. Doch auch ein klares Bild von der Welt. Einem Ausschnitt von ihr, winzig nur und doch weit. Wie eine Filmszene, ganz unmittelbar von dem Kamera-Auge schlierenfrei aufgezeichnet. Als läge das Geheimnis der Schönheit in der Anziehungskraft des Unvollkommenen. Lotte Eisner, die er trifft, ist noch müde, aber nicht mehr todmüde

Herzog hat einmal geäußert, Filme, so wie er sie mache, seien Versuche über die entsetzliche Schwierigkeit, sich verständlich zu machen. Das gilt, natürlich, für seine Spielfilme. Aber eben auch in ganzer Dringlichkeit für sein reiches, stetig wachsendes dokumentarisches Werk. Immer sind diese Filme, mögen sie einem entsprechen oder auch zur protestierenden Ent - gegnung reizen, getrieben von einer Faszination, nach dem zu suchen, was im Innersten von uns allen ist. Herzogs Begehr, so scheint mir, ist der insistierende Versuch, mit seinen Filmen auf die Welt hinzuweisen.

Mit der Kamera blickt er auf die Natur und über sie auf Menschen – voller Erstaunen, gebannt von dem, was sich vor ihm entfaltet, siedelnd in einem raumzeitlichen Niemandsland. Es ist, als ob der Mensch Werner Herzog, der Filmmacher, meinetwegen auch Dokumentarfilmer, mit Hartnäckigkeit, gespeist aus unschuldiger Einfachheit – nein: Naivität ist dies nicht – eine bestimmte Wahrheit hinter dem Sichtbaren vermutete.

Wim Wenders hat einmal von dem »Act of Seeing« gesprochen, das einen Regisseur umtreibe. Auch er zwischen den Polen Spiel- und Dokumentarfilm schwebend. Nicht nur deshalb überreicht er, der Freund und Vertraute im Geiste, Werner Herzog in diesem Jahr den Ehrenpreis des Deutschen Dokumentarfilms für sein Lebenswerk. Herzog fordert, dass jemand der Film studieren wolle, sich die Filme von »Wim« anschauen müsse. Und in der Wucht des Muss steckt unverdorben ein Einverständnis, das in sich auch die Lust zum Einspruch mitschweben lässt. Herzogs Kompliment braucht die Höflichkeit des entgegnenden »Deine aber auch«. Was diese Beiden verbindet, umschreibt Wenders, wenn auch mit Bezug auf seine Filme, mit dem Hinweis, für ihn sei es toll, dass das Sehen anders funktioniere als das Denken, weil im Denken immer auch eine Meinung verborgen sei, jedenfalls der Hang dazu, eine zu formulieren. Das Sehen jedoch sei meinungsfrei. Vielmehr gehe es ums Wahrnehmen. Also auch um das Nehmen der Wahrheit durch ein Eintauchen in die Welt. Er versuche zu forschen und zu suchen, wer die Menschen eigentlich seien. So sagt es Herzog in einem Interview. Er fertige für sich und sein Publikum ein Menschenbild. Bilder vom Menschen – und wie die Kunst, der Filmkünstler, den Menschen gebildet hat.

Dass Herzog als Dokumentarfilmer kein Gralshüter ist, kein Formalist und Kleingeist, ist weithin bekannt. Mit der ideologisch verstimmten Reinheit – polierten Reinlichkeit würde Herzog als Beschreibung vielleicht besser gefallen – des »cinéma vérité« fremdelt er. Er nennt es die »Primitiv-Schicht der Wahrheit«. Für ihn heißt »Dokumentieren« auch die Möglichkeit des Eingreifens zu nutzen. Denn schon der Einsatz der Kamera überhaupt – und des eventuell noch dazukommenden Kommentars – ist ein Eingriff in die Wirklichkeit. Und was, bitte, ist Wirklichkeit? Was schon anderes als ein Ding, das sich manipulieren lässt.

In seinem Film Land des Schweigens und der Dunkelheit lässt er die taubblinde Protagonistin Fini Straubinger von einem Skispringen erzählen, das sie angeblich als kleines Mädchen erlebt hat. Was aber nicht stimmt, denn Herzog hat ihr diesen Text vorgegeben und sie gebeten, ihn so zu erzählen, als habe sie dieses Ereignis mitangesehen. Aber diese Unwahrheit, die keine Lüge ist, offenbart im Kontext des Porträts ein Geheimnis der Protagonistin, das sonst unentdeckt geblieben wäre. Eine Sehnsucht nach Welt, festgeklammert in der »Seelenqual der Taubblindheit«. Herzog geht es um eine versteckte Wahrheit. So nimmt er auch den Vorwurf der Manipulation hin. Er gehe manchmal bis an den Rand der Unwahrheit, um eine wahrhaftigere Form der Wahrheit hinter der getarnten oder sich tarnenden Wirklichkeit zu finden. Und balanciert mit dieser Auffassung zuweilen auch am Rand dessen, was gemeinhin von einem Dokumentarfilm erwartet wird. Herzog überformt das dokumentarische Material – zuweilen und dann sehr bewusst – durch inszenierende Eingriffe. Einen Abbildrealismus strebt er nicht an. Glocken aus der Tiefe lotet die Untiefen zwischen Glauben und Aberglauben im russischen Sibirien aus. Über einen zugefrorenen See schlittern zwei Männer. Pilger, so scheint es. Unter dem Eis, so die Legende, liegt eine Stadt, die Gott ins Wasser senkte, damit sie nicht von Ungläubigen eingenommen werde. Doch die Männer sind keine wirklichen Pilger. Herzog hat sie als solche ins Bild gesetzt. Eigentlich zwei Betrunkene, von ihm frei weg aus der nächstgelegenen Kneipe engagiert. Klar, diese Sucht nach dem Eingreifen muss das verbockte Missverständnis und auch den Vorwurf der Ästhetisierung aushalten. Das Nichtverstehenwollen wird de facto zu einem Stück des Films, die Rezeptions-Sequenz: ein erlebter, aber nicht gefilmter Rattenschwanz von Werner Herzogs dokumentarischem Erzählen.

Oft zieht die Kamera in seinen Dokumentarfilmen in fast lähmender Langsamkeit ihre Bahn. Einzelheiten, Nuancen der Wirklichkeit, Feinheiten des Ausschnitts sind in nahezu unbewegte Totalen eingeschnitten. Herzog intensiviert mit seinen Kameraleuten die Wahrnehmung des Bildes. Der Schnitt tut ein Übriges. Rad der Zeit folgt einer Gruppe von Österreichern, die eine spirituelle Praxis des tibetischen Buddhismus unter Anleitung des Dalai Lama nachvollziehen und weitet diese Initiation hin zu anderen Ritualen in Tibet. Herzog und sein Kameramann tauchen förmlich ein in die Gläubigen, werden aufgesogen, verschlungen vom Ritual. Der Verlust von Distanz zwingt zur Distanz. Grizzly Man porträtiert einen Mann, der mit den Bären lebt. Der quasi sein Menschsein aufgibt, um in der Natur aufzugehen. Ein Extremist der Sehnsucht nach Selbstaufgabe. Fatalistisch? Oder einer, mit dem Wunsch die Sonne zu greifen? Auch eine exzentrisch-existentielle Selbstdarstellung – wie sie auch Klaus Kinski lebt, schreit, wütet, zärtlich in sich verfangen: Mein liebster Feind. Das war und ist er für Werner Herzog. Herzog bezweifelt nicht die Würde dieser auffällig Ausgefallenen, lässt sie ihre Geschichten so entfalten, wie sie es wollen.

Georg Stefan Troller, im vergangenen Jahr mit dem Ehrenpreis des Deutschen Dokumentarfilms ausgezeichnet, meint, dokumentarisches Arbeiten, das Abbilden von Realität, zwinge immer auch zu einer Auslegung der Wirklichkeit. Mithin: Dokumentarfilme speisen sich aus subjektiver Erfahrung. Es zählen nicht nur Zahlen, Daten, Fakten. Herzogs dokumentarische Filme sind versetzt mit einer immer auch ekstatisch erlebten Realität. Das Undenkbare an jedem Wunder ist, dass es geschieht. Angetrieben von einer blühenden Sehnsucht nach dramatischer Freiheit, die Eisschicht des Entsetzens vor der Welt brechend, deren Koordinaten noch so verrückt seien, dreht Werner Herzog seit Jahren Dokumentarfilme mit eigensinniger Fantasie. Und Fantasie heißt: die komplette Wirklichkeit erleben. So entsteht ein filmischer Kosmos an Weltbetrachtung: traumversessen und wahrhaftig.

Eric Friedler
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