Es sind kleine etwa 15 cm lange Schuppen, die in Freiburg eine Fassade so besonders machen. An warmen Tagen sorgen sie für Schatten. An kälteren Tagen öffnen sie sich, um möglichst viel Licht und damit auch Wärme ins Gebäude zu lassen.
Das Besondere: Die Schuppen verformen sich an warmen und kalten Tagen ganz von selbst, ohne zusätzliche Mechanik, ohne Motor und ohne Strom. Dahinter steckt eine clevere Konstruktion, die sich ein Forschungsteam der Universität Freiburg und der Universität Stuttgart von der Natur abgeschaut hat.
Deshalb sind Kieferzapfen ein gutes Vorbild für die Technik
Kiefernzapfen sind das Vorbild. Professor Thomas Speck, Leiter des Botanischen Gartens in Freiburg sagt:
“Kiefernzapfen sind kleine Wunderwerke der Natur. Wenn es feucht ist, sind Kiefernzapfen geschlossen. Und wenn es trocken ist und warm, öffnen sie sich.”
Dieses Schließen und Öffnen hat er zusammen mit einem Architekten-Team der Universität Stuttgart nachgebaut. Im Fachmagazin Nature Communications hat das Forschungsteam das neue System vorgestellt.
Die neu entwickelten Schuppen des Beschattungssystems funktionieren genauso wie die Kiefernzapfen. Wird die Luft trocken, öffnen sich die Zapfen, um im Sommer ihre Samen zu verteilen.
Und dieses Verformen – diese Inspiration aus dem Wald – nutzt das Forschungsteam für das neue Verschattungssystem SolarGate.
Im Hochsommer sind die Schuppen am stärksten geschlossen, sorgen für viel Schatten. Wird es abends kühler, öffnen sie sich ein bisschen, an kalten Tag sind sie ganz geöffnet.
Luftfeuchtigkeit sorgt für Spannung und Verformung der Schuppen
“Unser Ziel ist wirklich die Architektur grüner zu machen, gerade jetzt auch in Zeiten des Klimawandels“, sagt Professor Thomas Speck. Im Gegensatz zu anderen Beschattungssystem brauchen die Schuppen keinen Strom, keine Sensoren, keine Mechanik.
Die neu entwickelten Schuppen werden in einem 3D-Drucker erstellt, können günstig aus Zellulosefasern hergestellt werden. Die Schuppen bestehen im Wesentlichen aus zwei Schichten.
Eine Schicht quillt bei hoher Luftfeuchtigkeit auf, will sich ausdehnen. Die andere Schicht bleibt fest. So entsteht eine Spannung und die Schuppen können sich je nach Luftfeuchtigkeit selbst verformen.
“Der Energieeintrag wird um 90 Prozent reduziert, wenn man ein so funktionierendes Versorgungssystem hat”, sagt Professor Achim Menges von der Universität Stuttgart. Er ist Architekt und hat mit seinem Team den Bauplan für die Schuppen entworfen.

Seit zwei Jahren sind die Schuppen als Beschattungssystem in einem kleinen Gebäude der Universität Freiburg installiert und sorgen für ein besseres Raumklima, sagt der Biologe Thomas Speck:
“Das sind dann mehrere Grad Unterschied, so fünf bis sieben Grad und vor allem was eben das Schöne ist: Das kostet keine Energie.”
Weniger Hightech, mehr Ideen aus der Natur
In Zukunft werde der Energiebedarf fürs Kühlen von Gebäuden deutlich steigen – umso wichtiger seien einfache Lösungen mit der Natur als Vorbild:
“Wir neigen heute dazu, gerade weil Chips und Sensoren sehr billig geworden sind, überall noch einen Chip, noch einen Sensor reinzubauen”, sagt Speck.
Das sei aber oft gar nicht notwendig. Weg vom Perfektionismus, hin zum Praktikablen sei das Ziel des Forschungsteams, sagt der Leiter des Botanischen Gartens in Freiburg:
“Viele Lösungen der Biologie sind gar nicht mal optimal, die sind einfach gut genug, aber dafür widerstandsfähig, robust und eben auch billig.”
Die Schuppen sind in einem Glaskasten draußen an der Fassade vor dem eigentlichen Fenster montiert. So sind sie geschützt und können auf die Luftfeuchtigkeit draußen reagieren. Einmal installiert sollen die Schuppen 20 Jahre halten.
Auch fleischfressende Wasserpflanze ein Vorbild aus der Natur
Im Botanischen Garten in Freiburg steht noch ein weiteres Beispiel für ein Beschattungssystem, wieder mit der Natur als Vorbild. Ein Team aus Biologinnen und Biologen hat sich hier von einer fleischfressenden Wasserpflanze inspirieren lassen – namens Wasserrad.
Die Pflanze schnappt mit zwei Klappen zu, kann Fische fangen. Das Zuklappen braucht nur wenig Energie und lässt sich leicht nachbauen.
Wie bei der Schuppenfassade arbeitete das Freiburger Forschungsteam mit Architektinnen und Architekten der Universität Stuttgart zusammen – unter der Leitung von Jan Knippers.
Das Ergebnis ist das Beschattungssystem FlectoLine, das seit zwei Jahren an einem Gewächshaus des Botanischen Gartens Freiburg getestet wird. Große Klappen werden per Druckluft und Computer gesteuert.
Die bewegte Fassade sorgt bei den Besucherinnen und Besuchern des Botanischen Gartens immer wieder für Aufsehen, erzählt Prof. Thomas Speck:
“Die finden es ganz toll. Die finden es so unglaublich ästhetisch unglaublich schön. Auch hier hat man wieder diese Bewegungsabläufe der Pflanzen praktisch übersetzt.”

"Hochachtung vor der Evolution und vor der Natur”
Aktuell läuft der Langzeittest, genauso wie bei dem neuen Schuppen-System, mit den Kiefernzapfen als Vorbild. Das Forschungsteam ist sicher: Sie können von der Natur auch in Zukunft noch einiges lernen.
“Je mehr und je tiefer ich mich mit diesen ganzen Pflanzen als Vorbilder für technische Entwicklungen beschäftige, umso größer wird meine Hochachtung vor der Evolution und vor der Natur”, sagt der Biologe.
Sie seien noch Lichtjahre davon entfernt, die Qualität, die Robustheit und die Funktionalität übertragen zu können. Thomas Speck und sein Forschungsteam sehen also noch viel Potential, um die Architektur und vor allem die Fassaden mit neuen Lösungen aus der Natur zu verbessern.
Sich öffnende Zapfen oder fleischfressende Pflanzen sind da also wahrscheinlich nur der Anfang. Viele weitere Vorbilder und neue Techniken könnten noch folgen.