Bildung in der Pandemie

Wie können Corona-Lerndefizite aufgeholt werden?

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Anja Braun
Anja Braun, Reporterin und Redakteurin SWR Wissen aktuell. (Foto: SWR, Christian Koch)
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Ralf Kölbel
Ralf Kölbel, Online-Redakteur bei SWR Wissen aktuell sowie Redakteur bei SWR2 Wissen. (Foto: SWR, Christian Koch)

Seit Jahresbeginn sind Grundschüler maximal auf ein Viertel ihres regulären Präsenzunterrichts gekommen. Viele Mittelstufenschüler sitzen seit vier Monaten komplett zu Hause. Doch wie können Schulkinder die durch Corona-Fernunterricht entstandenen Wissenslücken wieder aufholen?

Mindestens 20-25 Prozent aller Schulkinder haben Lerndefizite

Das Schuljahr 2020/2021 ist gelaufen. Da sollten sich die Kultusminister:innen endlich mal ehrlich machen, fordern Bildungsexperten. Durch den nicht vorhandenen oder Fernunterricht sind teilweise riesige Wissenslücken entstanden. Doch die Lernrückstände oder Defizite der Schulkinder sind schwer zu fassen, schließlich haben die Heranwachsenden ganz unterschiedliche Lücken. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek geht davon aus, dass 20-25% aller Kinder Lerndefizite aufgehäuft haben. Mit diesen Schätzungen hantiert auch der deutsche Lehrerverband.

Noch ist unklar, wie viel Lernstoff die Schülerinnen und Schüler durch die Corona-Pandemie verpasst haben. (Foto: IMAGO, imago images/Christian Thiel)
Noch ist unklar, wie viel Lernstoff die Schülerinnen und Schüler durch die Corona-Pandemie verpasst haben.

Wissenslücken schwer zu erfassen

Schwierig ist, dass man die Wissenslücken der Schulkinder noch gar nicht wirklich erfassen kann. Lernrückstände werden oft durch Vergleichsarbeiten erfasst, doch die wurden in der Pandemie in fast allen Bundesländern ausgesetzt. Nach Einschätzung von Lehrerverbandspräsident Heinz-Peter Meidinger sind etwa ein Fünftel der Schülerinnen und Schüler im vergangenen Jahr bei den Lernfortschritten "stark abgehängt" worden. Viele Lerndefizite werden sich seiner Meinung nach auch erst im Lauf der nächsten Schuljahre zeigen.

Schule auf, Schule zu. Für die Vermittlung von Lerninhalten sind das sicher keine optimalen Bedingungen. (Foto: IMAGO, imago images/Rainer Unkel)
Schule auf, Schule zu. Für die Vermittlung von Lerninhalten sind das sicher keine optimalen Bedingungen.

Verschiedene Vorschläge zur Aufarbeitung der Wissens-Lücken

Doch wie können diese Lücken am besten aufgearbeitet werden? Wir präsentieren die bekanntesten ideen:

Ein Vorschlag lautet, bei gutem Wetter den Schulunterricht einfach im Freien abzuhalten. Hübsche Idee, bei genauerem Check aber kaum durchsetzbar. So bräuchte es in größeren Städten sehr große schulnahe Parks, die dann am Vormittag zwischen den unterschiedlichen Schulen und Klassen aufgeteilt werden müssten. Schlechtes Wetter würde den Plan gleich zunichte machen. Deshalb hält der Lehrerverband diese Idee für Quatsch. Gegen Rausgehen mit einzelnen Klassen und in einzelnen Fächern – dort wo es geht- spreche dagegen nichts. Das würde bereits in viele Schulen so gemacht. Aber das heilt das Problem nicht.

Bei steigenden Corona-Fallzahlen findet Schulunterricht überwiegend online statt. Die langfristigen Folgen sind noch nicht absehbar. (Foto: IMAGO, imago images/ANE Edition)
Bei steigenden Corona-Fallzahlen findet Schulunterricht überwiegend online statt. Die langfristigen Folgen sind noch nicht absehbar.

Sommerschule - Nachhilfe in den Ferien denkbar

Wieder im Gespräch ist auch die Sommerschule, also freiwilliger Zusatzunterricht bzw Nachhilfe in den Ferien. Nette Idee – hat im vergangenen Jahr leider auch nur ganz wenige SchülerInnen erreicht. Denn es wurden nur verhältnismäßig wenige Plätze angeboten, ein Schulkind musste dafür von seiner Schule empfohlen werden und nicht zuletzt waren die Angebote auf Unterstützung in Mathe und Deutsch beschränkt. Die Bundesschülerkonferenz fordert daher, in diesem Sommer müsse die Sommerschule jedem offen stehen, der teilnehmen wolle. Einen Zwang dazu soll es aber nicht geben.

Lernstoff sollte komprimiert werden

Auch der Lehrplan könnte und sollte angepasst und verschlankt werden - also mehr auf Kompetenzen, denn auf Wissen setzen. Dann könnten wir auch beim Lernstoff Abstriche machen . Das hat Deutschland bisher an die Schulen und einzelnen Lehrerinnen nach unten weitergereicht – die zumindest nach der jüngsten OECD-Umfrage – damit heillos überfordert waren. Deutschland hat deshalb in Sachen Lernstoffkomprimierung ein enorm schlechtes Zeugnis bekommen. Hier wäre also noch Luft nach oben.

Auch wenn sich viele an das Lernen von zu Hause gewöhnt haben - den Unterricht vor Ort kann es kaum ersetzen. (Foto: IMAGO, imago images/Jochen Tack)
Auch wenn sich viele an das Lernen von zu Hause gewöhnt haben - den Unterricht vor Ort kann es kaum ersetzen.

Forderungen nach einem intelligenten Zusatzjahr

Dann gibt es den Vorschlag, ein freiwilliges zusätzliches Schuljahr einzuführen. Das soll aber nicht einfach ein Wiederholen sein, sondern ein intelligentes Zusatzjahr, sagt der Lehrerverbandspräsident Heinz-Peter Meidinger. Das sei ein sinnvolles Angebot für die zwischen 10 und 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler, die Lerndefizite aus zwei Jahren angehäuft hätten. Sie sollten eine Klasse individuell wiederholen können. Das bedeutet, dass sie in den Fächern, in denen sie große Defizite haben, eine Zusatzförderung erhalten. Möglich sei auch diese Schülerinnen und Schüler gleich in größeren Lerngruppen an der Schule zusammenzufassen, so Meidinger.

Rückkehr zum G9 in Baden-Württemberg?

Der Philologenverband in BW fordert ebenfalls ein zusätzliches Schuljahr – zumindest für Gymnasien. Die sind in Baden-Württemberg ja immer noch auf 8 Schuljahre Jahre verkürzt. Viele Eltern, Schüler:innen und Lehrkräfte haben eine Online-Petition dazu unterzeichnet. Ein sofortiger Umstieg auf G9 würde die Lücken und Defizite durch zusätzliche 12 Stunden Lernzeit in den nächsten drei Jahren solide schließen, so der Vorsitzende des baden-württembergischen Philologenverbandes, Ralf Scholl.

Es fehlt an Lehrpersonal für Zusatz-Unterricht

Doch klappt das wirklich? Denn es drängt ja nach dem Sommer der nächste Altersjahrgang in die Grund- und weiterführenden Schulen und dann wird es eng – nicht nur räumlich, sondern auch was die Lehrer:innen angeht. Schließlich ist ein zusätzliches Schuljahr nirgends eingepreist.

Freiwillig wiederholen statt sitzenbleiben ?

2020, als die Schülerinnen noch vergleichsweise wenig durch die Corona-Pandemie betroffen war, gab es die Übereinkunft, grundsätzlich alle zu versetzen. Wer wollte, konnte freiwillig wiederholen und es wurde nicht angerechnet.

Das fordern Eltern, Lehrer und Schüler nun auch für die Versetzung nach dem Pandemieschuljahr 20/21. Freiwilliges Wiederholen ja, aber kein Sitzenbleiben. Doch bisher gibt es dazu noch keine Aussagen. Möglicherweise fürchten die Kultusbeamten genau das - einen riesigen Andrang aufs freiwillige Wiederholen und sind deshalb so schmallippig.  

An vielen Schulen fehlt es an Personal. Auch die technische Infrastruktur ist vielerorts noch ausbaufähig. (Foto: IMAGO, imago images/Eibner Europa)
An vielen Schulen fehlt es an Personal. Auch die technische Infrastruktur ist vielerorts noch ausbaufähig.

Nachhilfe zur Stärkung der Kernfächer

Ein weiterer Vorschlag des Lehrerverbandes, der auch von dem Bundesschülervertretung unterstützt wird, heißt Nachhilfe im regulären Stundenplan durch zusätzliche Förderangebote in den Schulen. Dabei sollte man sich nicht nur auf die Gruppe konzentrieren, die besonders große Lücken hat. Alle bräuchten im kommenden Schuljahr Nachhilfe - und zwar durch zusätzliche Förderangebote der Schulen. Dazu könnten im Stundenplan bestimmte Kernfächer verstärkt werden oder es könnte am Nachmittag Zusatzangebote geben.

Die Lehrkräfte brauchen Unterstützung durch IT-Expertinnen und Sozialarbeiter

Um das alles zu schaffen, brauchen unsere Schulen jetzt richtig viel Unterstützung. Denn es fehlt ja nicht nur mehr Lehrpersonal, sondern auch weiteres unterstützendes Personal wie zum Beispiel Schulpsychologinnen, Sozialpädagogen, und technisches Personal für die IT. Schließlich müssen die Lehrkräfte entlastet werden, damit sie sich auf ihre Hauptaufgabe konzentrieren können.

Geld für Förderstunden wohl nicht ausreichend

Bundesfamilienministerin Anja Karliczek hatte Ende März ein bundesweites Nachhilfeprogramm ab Herbst mit einem Umfang von einer Milliarde Euro vorgeschlagen. Damit könnte konkret jedem vierten oder fünften Schüler ein Lernangebot gemacht werden: Entweder zwei Extra-Stunden pro Woche in Kleingruppen über ein gesamtes Schuljahr verteilt oder vier Förderstunden pro Woche verteilt über ein halbes Schuljahr.
Der Deutsche Lehrerverband sagt dagegen, es brauche mindestens zwei Milliarden Euro, um wenigstens die größten Lücken zu schließen. Im laufenden Schuljahr müssten die Schulen jetzt schauen, wo die Kinder stehen und Beratung anbieten. Nur dann könne die Nachholförderung im Herbst ordentlich starten.