Puzzle aus antiken Tonscherben

So setzen Archäologen verstreute Texte wieder zusammen

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Piotr Heller
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Anja Braun
Anja Braun, Reporterin und Redakteurin SWR Wissen aktuell. (Foto: SWR, Christian Koch)
Ralf Kölbel
Ralf Kölbel, Online-Redakteur bei SWR Wissen aktuell sowie Redakteur bei SWR2 Wissen. (Foto: SWR, Christian Koch)

In den Museen der Welt lagern tausende Bruchstücke früher Schrifterzeugnisse und Tontafeln. Manche passen zusammen - doch wie findet man das heraus? Ein Team aus Archäologen und Informatikern hat nun eine Technik ausgetüftelt, wie sich die Bruchstücke am Computer zusammensetzen lassen.

Erstmals ist das mit dem Atrahasis-Epos gelungen. Das Epos vom Entstehen der Menschheit wurde in Keilschrift auf Tontafeln fest gehalten. Eine der ältesten Kopien umfasst drei solcher Tafeln, die heute im British Museum in London stehen. Aber die Tafeln sind zerbrochen und manche Stücke fehlen. Seit 50 Jahren spekulieren Archäologen, dass ein Tontafel-Fragment, das sich in einem Museum in Genf befindet, eines dieser fehlenden Stücke ist. Überprüfen konnte man das bisher nicht – Museen geben solche Exponate ungerne her.

Archäologe Erlend Gehlken von der Universität Frankfurt hat nun gemeinsam mit Kollegen und Informatikern eine sensationelles und zugleich extrem einfaches und kostengünstiges System entwickelt, mit dem überprüft werden kann, ob die Stücke zusammengehören und dann auch ihre Inhalte zu entziffern.

Ein einfaches und zugleich kostengünstiges System bereitet die Puzzleteile auf

Gehlken hat einen Drehteller und eine Kamera an einen Laptop angeschlossen.

Babylonisches Scherbenpuzzle (Foto: SWR, SWR - Piotr Heller)
Einfache Technikteile geschickt kombiniert ergeben ein geniales System für die brüchigen Scherbenfragmente

Der Drehteller ist eigentlich dafür gedacht, Schmuckstücke in Juweliergeschäften zu präsentieren. Dennoch hat diese simple Hardware das Zeug, Jahrtausende alten Texten ihre Geheimnisse zu entlocken. Denn mithilfe des Drehtellers können Bruchstück von verschiedenen Seiten und aus vielen Perspektiven fotografiert werden.

Es geht um die genaue Berechnung der Konturen von den uralten Bruchstücken

Es reicht nicht aus, die beschriebene Seiten der Bruchstücke zu fotografieren und zu vergleichen. Bei den jahrtausende alten Tonfragmenten muss man auch die dreidimensionale Darstellung berücksichtigen: zum Beispiel die Zeilenhöhe. Außerdem lässt sich oft nicht erkennen, ob Bruchstellen durch Zufall entstanden sind oder ob das Schriftzeichen gewesen sind. Deshalb müssen die Photos in einem weiteren Schritt ausgewertet werden:

Zunächst muss man aus diesen Fotos eine Punkt-Wolke gewinnen und der nächste Schritt ist, dass man diese Punkt-Wolken skaliert. Dazu haben wir auf unserem Teller ein Kalibrierungs-Papier und dann können wir ganz genau sagen, wie groß diese Punktwolke ist.

Der Computer berechnet anschließend daraus ein 3D-Modell des Tontafel-Fragments.

Das Herzstück des System ist ein Match-Algorithmus

Dieser Algorithmus setzt die 3D-Modelle verschiedener Bruchstücke wie ein Puzzle automatisch zusammen. Passen zwei Teile zueinander, spricht der Fachmann von einem „Join“.

Und der ist im Fall des Atrahasis-Epos gelungen. Die drei zerbrochenen Tafeln aus dem British Museum in London und das Tontafel-Fragment, das sich in einem Museum in Genf befindet, gehören zusammen. Es war der erste Join via Internet über eine große Distanz. Ihr bahnbrechendes System zum Textpuzzlen für uralte Fragmente wollen die Forscher nun international publik machen, damit möglichst viele Archäologen davon profitieren. Auf http://virtualcuneiform.org/index.html beschreiben sie weitere Details und Anwendungsbeispiele.

Nächstes Projekt: Babylonische Wirtschaftstexte entziffern

Nun wollen die Frankfurter Archäologen ihr System für babylonische Wirtschaftstexte nutzen. Da geht es zum Beispiel um Opferlisten für Tempel. Oder Listen über die Effizienz einzelner Betriebe, also wie viel Bier eine Brauerei ausstößt oder wie viele Schafe ein Schäfer hat. Oder um Schuldnerlisten. Werden diese Texte vollständig entziffert, so bieten sie spannende Einblicke in das tägliche Leben der Menschen vor 4000 Jahren. Doch die Texte stehen auf Tontafeln, die oft zerbrochen und damit unlesbar sind.

Mit der neuen Technik lassen sich jahrelange mühselige Vergleiche nicht nur vereinfachen, sondern auch beschleunigen

Gehlken hofft darauf, auch die Texte eines babylonisches Archiv, das er in Heidelberg bearbeitet hat und das sich zum Teil in Bagdad befindet, nun mit der neuen Technik rascher zu entschlüsseln.

„Ich war etwas verzweifelt, es sind 2.700 Stücke, das sind also ungefähr 3,6 Millionen Join-Möglichkeiten und wenn sie die Stücke in Bagdad dazurechnen, haben sie 14 Millionen Join-Möglichkeiten. Und ich konnte ausrechnen, dass ich ungefähr 20 Jahre meines Lebens damit verbringen müsste, all diese Tontafeln zusammenzusetzen.“

Das könnte dank Computertechnik nun in einigen Monaten erledigt sein. Da das System kostengünstig und leicht transportierbar ist, könnte man es auch problemlos in den Irak verfrachten und dortige Tontafelstücke virtuell mit Fragmenten aus Deutschland zusammensetzen.