Kinder-Holzfiguren und ein Paragraphzeichen liegen auf einer Holzunterlage. (Foto: IMAGO, IMAGO / Christian Ohde)

Sexuelle Gewalt

Wie können wir Kinder besser schützen?

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Elena Weidt
Bild von Elena Weidt, Multimedia-Reporterin und Redakteurin SWR Wissen aktuell (Foto: SWR, Elena Weidt)
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Lilly Zerbst

Jedes fünfte Kind könnte schon einmal von sexualisierter Gewalt betroffen gewesen sein. Häufig kommen die Täterinnen und Täter aus der eigenen Familie.

Sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen ist weit verbreitet und stellt in der Gesellschaft noch immer ein großes Tabu dar. Dabei hat schätzungsweise jedes fünfte Kind sexualisierte Gewalt erlebt. Das zeigt eine aktuelle Dunkelfeld-Studie aus Mannheim.

Viele Täter und Täterinnen kommen aus der eigenen Familie. Doch gerade in diesem isolierten Umfeld ist es schwer, Kinder zu schützen.

Täter manipulieren ihre Opfer zum eigenen Schutz

Eine aktuelle Studie der Uni-Frankfurt zeigt, dass fast jeder zweite Täter aus der Familie stammt: Väter, Stiefväter, Großväter, Onkel, Brüder werden genannt. In 10 Prozent der Fälle waren die Mütter mitschuldig. Die Täter und Täterinnen werden häufig von Mitgliedern der Familie geschützt, aus tiefer Angst nicht zuletzt vom Opfer selbst, beschreibt Clarissa Vogel aus eigener Erfahrung:

„Allein dass der Täter aus meiner Familie kam, hat mir auch das Gefühl geben, ich möchte meine Familie nicht verraten. Und der Mensch, der mich ja auch betreut hat, war er ja auch. Ich war ja auch abhängig von ihm.“

Zehn Jahre lang musste sie die sexuellen Übergriffe ihres Stiefgroßvaters überstehen. Familiäre Täter und Täterinnen nutzen die Nähe zum Kind, seine Abhängigkeit und Verbundenheit oft brutal aus, erklärt Martina Huck. Sie betreute als Therapeutin und Beraterin selbst viele Jahre Opfer sexualisierter Gewalt. Mit Drohungen, dass den Kindern oder ihren Familie etwas Schlimmes passiert, wenn die Wahrheit ans Licht kommt, bringen die Täter das Opfer häufig zum Schweigen.

Hilfe von Erwachsenen ist schwierig zu erreichen

Engerer Kontakt zu Erwachsenen außerhalb der Familie wird oft von den meist männlichen Tätern bewusst unterbunden. Damit hat das Kind keine Chance, sich jemandem anzuvertrauen, der Maßnahmen ergreifen könnte.

Auch innerhalb der Familie ist Hilfe nicht immer leicht zu finden. Clarissa Vogel vertraute sich ihrer Großmutter an. Sie wusste von den Taten ihres Partners und entschied sich, diesen zu schützen. Sie versicherte ihrer Enkelin sogar, dass alle lieben Kinder so etwas machen und sagte ihr, sie solle das tun, was ihr Stiefgroßvater sagte.

Hinterkopf eines Mädchens mit braunen Zöpfen. (Foto: IMAGO, IMAGO / photothek)
Für Kinder kann die Suche nach einer Ansprechperson, die tatsächlich eingreift, schwierig sein. Es kostet viel Überwindung, sich einer dritten Person anzuvertrauen.

Geschlossenes Umfeld "Familie" ist schwer zu durchdringen

Die Franfurter Studie zeigt auch, dass es im Raum der Familie oft besonders schwer ist, Kinder ausreichend zu schützen. Denn selbst Institutionen sehen eine Familie oft noch als „private Angelegenheit“ , erklärt das Autorenteam der Studie. Es gebe noch immer eine große Scheu, sich da einzumischen.

Schulen und Beratungsstellen sollen als Anlaufstellen für Kinder dienen

Um betroffene Kinder flächendeckend zu erreichen, wurde in Stuttgart eine neue Koordinierungsstelle gegründet: die LKSF. Sie soll alle Beratungsstellen gegen sexuelle Gewalt in Baden-Württemberg vernetzen und landesweite Projekte im Präventionsbereich umsetzen.

Gerade wenn die Kinder offensichtlich abgeschottet werden, ist es wichtig, ihnen Möglichkeiten zu zeigen, wohin sie sich wenden können. So kann zum Beispiel der Präventionsunterricht in der Schule helfen, den eigenen Missbrauch zu erkennen und zu melden. Das schildert Martina Huck, die die neue Koordinierungsstelle in Stuttgart leitet, am Beispiel einer vierzehnjährigen Schülerin:

"Das Mädchen hat erst nach der Prävention wirklich begriffen, dass das, was der Papa mit ihr macht, Missbrauch ist und dabei handelte es sich wirklich um schweren sexuellen Missbrauch. Der Vater wurde später dann zu acht Jahren Haft verurteilt."

Personal in Kindergärten und Schulen muss geschult werden

In Kitas ist ein Schutzkonzept gegen Gewalt jeglicher Art mittlerweile Pflicht und Teil der Betriebserlaubnis. Auch viele Schulen haben mit ähnlichen Konzepten nachgezogen, doch leider längst nicht alle.

Das pädagogische Personal muss dafür nämlich auch ausreichend geschult sein, sagt Professorin Simone Pülschen von der Uni Flensburg. Sie forscht dazu, wie man Lehramtsstudierende besser auf dieses Thema vorbereiten kann. Denn noch ist das kein fester Bestandteil der Ausbildung. Nicht wenige Lehrinnen und Lehrer fühlen sich überfordert – sowohl wenn ihnen ein Kind von belastenden Ereignissen berichtet, als auch, wenn sie selbst einen Verdacht haben.

Strichmännchen-Figuren von einem Mädchen und einem Jungen stehen vor einem Kindergarten. (Foto: IMAGO, IMAGO / Rolf Poss)
Kitas, Kindergärten und Schulen können Anlaufstellen für Kinder sein, die sexualisierte Gewalt erlebt haben. Um richtig mit den Kindern umzugehen und angemessene Maßnahmen zu ergreifen, muss das Personal allerdings geschult werden.

Vertrauensgespräche können in virtueller Realität geprobt werden

Simone Pülschen hat gemeinsam mit anderen Forschenden „ViContact“ entwickelt, ein Programm, mit dem Lehrerinnen und Lehrer Erstgespräche bei Verdacht auf Missbrauch mit Kindern in virtuellen Szenen üben können. So lernen sie, welche Fragen man stellen kann, welche nicht und wann man selbst Hilfe braucht.

Auch das Thema immer und immer wieder im geschützten Rahmen anzusprechen, kann Kindern helfen, über Sexualität und Gefühle zu sprechen und ihnen zu zeigen, dass es Themenbereiche gibt, bei denen man auch 'Nein' sagen muss, so Pülschen. Täter und Täterinnen könne es zum Teil auch abschrecken, wenn das Kind selbstbewusst und intuitiv reagiert und Ekel äußert, so Martina Huck. Das sei dann ein Glücksfall in der Prävention.

Junges Mädchen streckt ihre Hand als Stopp-Signal vor sich aus. (Foto: IMAGO, IMAGO / Panthermedia)
In Präventionsmaßnahmen lernen Kinder, dass es okay ist 'Nein' zu sagen. Sie werden dadurch für die Täter weniger angreifbar.

Doch die Wahrheit ist es auch: wenn Täter wie bei Clarissa aus der eigenen Familie kommen, ist es nach wie vor extrem schwierig, Kinder ausreichend zu schützen und in vielen Fällen unmöglich. Das zeigt auch die extrem hohe Zahl der Opfer.

Können härtere Strafen gegen Sexualstraftäter helfen?

Geht es um sexuellen Missbrauch, fordern Politiker und Politikerinnen gerne schnell medienwirksam ein höheres Strafmaß. Dafür gebe es vor allem zwei Gründe: Das Strafmaß lässt sich schnell ändern und das ohne hohe Kosten, erklärt Professor Martin Rettenberger, Psychologe und Direktor der kriminologischen Zentralstelle Wiesbaden.

Eine hohe Strafe sei zwar wichtig, um den gesellschaftlichen Wert eines Themas zu unterstreichen, so Rettenberger, bei vielen Sexualstraftätern bewirke sie aber nicht viel. Denn im Bereich der Sexualdelikte sei es sehr unwahrscheinlich, dass die Täter ihre Taten mit Blick auf die Strafhöhe abwägen, meint Rettenberger. Ein erhöhtes Strafmaß verfehlt damit seinen Abschreckungseffekt.

Wirksamer sei es, so Rettenberger, Strafen unmittelbar und schnell umzusetzen, sodass die Täterinnen und Täter tatsächlich überführt werden und eine Strafe verhängt wird. Das koste aber Zeit und Geld.

Psychische Behandlung von Straftätern kann Rückfallquote senken

Um die Täter von Taten abzuhalten oder sie behandeln zu wollen, müsse man aber auch wissen, warum sie straffällig werden, so Rettenberger. Viele Täterinnen und Täter sind nicht exklusiv pädophil, sondern leben noch andere schwerwiegende Störungen aus. Sie sehen Kinder zum Beispiel als Partnerersatz in schwierigen Beziehungen.

Um Rückfälle zu vermeiden können Betreuungs- und Behandlungsangebote helfen. Wenn man sich die Rückfallquoten der Sexualstraftäter der letzten Jahrzehnte anschaut, sieht man einen positiven Trend – gerade weil man heute nicht nur auf höhere Strafen setze, erklärt Kriminologe Rettenberger: In der Vergangenheit wurde vor allem auf Abschreckung, Sanktionen und Bestrafung gesetzt. Das habe relativ wenig gebracht, aber:

Seit einigen Jahren wird die Strafe mit vielfältigen Betreuungs- und Behandlungsangeboten verknüpft und das scheint in der Kombination deutlich mehr zu bringen als Strafe allein.

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