schlafender Schueler (Foto: IMAGO, IMAGO / Westend61)

Schule

Biorhythmus von Jugendlichen spricht gegen frühen Unterrichtsbeginn

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AUTOR/IN
Mirjam Stöckel
ONLINEFASSUNG
Carlos Tesch
Ralf Kölbel

Das frühe Aufstehen ist für viele Schüler*innen eine große Herausforderung. Warum kaum eine Schule teenie-freundliche Anfangszeiten ermöglicht – und wie das doch klappen kann.

Auch in Baden-Württemberg hat nach den Sommerferien wieder der Unterricht begonnen. Und zahlreiche Teenies taten sich wohl wieder schwer, morgens aus dem Bett zu kommen. Nicht weil sie faul wären – auch wenn genervten Eltern das manchmal so erscheinen mag. Sondern weil sie – Stichwort Biorhythmus – gar nicht anders können, als morgens lang zu schlafen. Wissenschaftler*innen sagen daher: Jugendliche sollen nicht zur ersten Stunde zum Unterricht erscheinen müssen – sie sollen morgens später anfangen dürfen.

Auch unter Schülern gibt es eher Frühaufsteher und eher Langschläfer. Ein früher Unterrichtsbeginn ist für Nachteulen eine große Herausforderung. (Foto: IMAGO, IMAGO / YAY Images)
Auch unter Schülern gibt es eher Frühaufsteher und eher Langschläfer. Ein früher Unterrichtsbeginn ist für Nachteulen eine große Herausforderung.

„Eine Stunde länger liegen zu bleiben und sich im Zweifel nochmal rumzudrehen und zu dösen – das ist schon angenehm. Das macht schon einen angenehmeren Morgen, sage ich mal." Stefan Rövenich, 17, sportbegeistert, ein ganz normaler Teenager. Sein Gymnasium aber – das ist alles andere als normal. Aber dazu später.

Warum überhaupt brauchen viele Jugendliche morgens so lang, um in die Gänge zu kommen?

„Wir haben in der Pubertät eine Zeitverschiebung in Richtung Spättyp", sagt Alfred Wiater, Kinder- und Jugendarzt und Vorstandsreferent der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin. Sprich: Der interne Taktgeber rutscht nach hinten, gewissermaßen.

Jeder Mensch hat genetisch bedingt seine eigene innere Uhr. So genannte Frühtypen schlafen von sich aus früh ein und wachen früh auf. Normal-Typen tun das etwas später. Und Spättypen finden besonders spät in den Schlaf – und müssen morgens daher lange schlafen. Die Eulen unter den Menschen, wenn man so will. Warum aber tickt die innere Uhr der meisten Teenies Eulen-artiger?

Die genauen Gründe kennt man nicht. Es liegt natürlich nahe, dass auch hormonelle Einflüsse in der Pubertät hier eine Rolle spielen.

Jugendliche brauchen acht bis zehn Stunden Schlaf pro Nacht. Unmöglich, wenn sie um elf, halb zwölf erst einschlafen und der Wecker sie um 6.30 Uhr aus dem Tiefschlaf reißt. Und: Wer müde im Unterricht sitzt, ist unkonzentriert, macht Fehler und leistet nicht das, was er eigentlich leisten könnte. Sprich: schneidet unnötig schlecht ab.

Jungs betreffe das noch mehr als Mädchen, sagt Schlafmediziner Wiater – denn dieses Timeshifting Richtung Spättyp sei bei jungen Männern ausgeprägter als bei jungen Frauen. Das heißt, die jungen Männer werden noch später müde und können noch später einschlafen als die jungen Frauen.

Männliche Jugendliche haben oft einen nach hinten verschobenen Schlaf-Rhythmus. Frühmorgens aufzustehen fällt diesen Jugendlichen besonders schwer. (Foto: IMAGO, imago/Ute Grabowsky / photothek.net)
Männliche Jugendliche haben oft einen nach hinten verschobenen Schlaf-Rhythmus. Frühmorgens aufzustehen fällt diesen Jugendlichen besonders schwer.

Chronischer Schlafmangel kann gesundheitliche Folgen haben

Chronischer Schlafmangel erhöht außerdem beispielsweise das Risiko für Herzkreislauf- und Stoffwechselerkrankungen und Depressionen. Deshalb fordern Wiater und andere internationale Fachleute einen teenie-freundlichen Unterrichtsbeginn: ab 9 Uhr, früher nicht.
In Alsdorf bei Aachen können Gymnasiast*innen nämlich selbst bestimmen, wann sie mit dem Unterricht beginnen wollen: Unterricht um acht – oder um neun?

Das ist ein so genanntes Gleitzeit-System: Dass ich entscheiden kann, mir die erste Stunde – die ich ja selber arbeiten muss – zu sparen, um dafür aber in einer Freistunde diese Zeit aufzuholen.

Das Gleitzeit-Modell gibt Schüler*innen die Möglichkeit, morgens auch mal etwas länger liegen zu bleiben. (Foto: IMAGO, imago/PantherMedia / Diana Jehring)
Das Gleitzeit-Modell gibt Schüler*innen die Möglichkeit, morgens auch mal etwas länger liegen zu bleiben.

Modellschule führt Gleitzeit-Unterricht ein

Die Gleitzeit funktioniert deshalb, weil es an Stefans Schule jeden Tag so genannte Selbstlern-Zeiten gibt. Da müssen sich die Schüler vorgegebenen Stoff eigenverantwortlich erarbeiten. Ein Lehrer unterstützt bei Bedarf. Dalton-Pädagogik heißt dieses Konzept. Oberstufenschüler dürfen die Selbstlern-Zeit in der ersten Stunde ausfallen lassen und erst um 9 Uhr kommen. Den Stoff arbeiten sie meist in Freistunden nach – stopfen so also ohnehin bestehende Lücken im Stundenplan.  

Unser Modell hat es geschafft: Wir können teilweise später beginnen, ohne später fertig werden zu müssen. Und das war das, was es so erfolgreich gemacht hat.  

Frühaufsteher dürfen in Alsdorf übrigens jeden Tag freiwillig zur ersten Stunde kommen. So wird das Modell allen gerecht. Kinder- und Jugendarzt Alfred Wiater hält das für das ideale Modell. Nur: Warum machen das dann so wenige Schulen? Rechtlich möglich wäre Unterricht ab 9 Uhr auch in Baden-Württemberg.

In Baden-Württemberg gibt es bisher keine politischen Bemühungen für einen flexibleren Unterrichtsbeginn. (Foto: IMAGO, imago images / Westend61)
In Baden-Württemberg gibt es bisher keine politischen Bemühungen für einen flexibleren Unterrichtsbeginn.

In Baden-Württemberg sieht die Politik keinen Handlungsbedarf

Er scheitert zum einen an der praktischen Umsetzung. Stichworte: unpassende ÖPNV-Taktung – und die Sorge, dass „später Unterricht“ automatisch „später Schulschluss und später Freizeit“ bedeutet. Zudem ist es für die vielen Schulen ohne Dalton-Pädagogik schwierig, flexible erste Stunden anzubieten.

Und: In einer Pandemie und angesichts von mehr als 150.000 zu integrierenden Kindern aus der Ukraine haben viele Schulleitungen gerade drängendere Probleme als den späten Unterrichtsbeginn.

Zum anderen aber sieht die Politik offenkundig keinen Handlungsbedarf. Aus dem Kultusministerium in Stuttgart heißt es auf SWR-Anfrage: "Generelle Aussagen, wonach Schüler*innen in den ersten Unterrichtsstunden noch nicht aufnahmefähig seien, seien aus wissenschaftlicher Sicht nicht haltbar." Zudem solle die Entscheidung über den Unterrichtsbeginn auch weiter den am Schulleben Beteiligten vor Ort anvertraut werden.
Der Landtag berät übrigens gerade über ein Bürgerbegehren, das einen Schulstart um 9 für Teenager verlangt. Ob von den Abgeordneten politischer Rückenwind für die Forderung kommt oder nicht, ist aber offen.

Gleitzeit macht Schüler*innen zufriedener

In Schleswig-Holstein hingegen ist der politische Wille da: Die neue schwarz-grüne Landesregierung wird Schulen in Zukunft beraten, wie die ihren Unterricht später beziehungsweise flexibler beginnen können – dem Schlafrhythmus der Jugendlichen zuliebe. So steht es im Koalitionsvertrag.

„Das ist sehr zu begrüßen“, sagt Schlafmediziner Alfred Wiater.

Auf der anderen Seite: Wenn man schaut, dass Baden-Württemberg da wieder dagegen argumentiert – was mir völlig unverständlich ist, auch mit undifferenzierten Zahlen - muss ich sagen: Das wird noch ein komplizierter Weg.

Am Gymnasium Alsdorf zeigen erste wissenschaftliche Studien: Der späte Unterrichtsstart schlägt sich zwar nicht in messbar besseren Noten nieder. Aber die Schüler sind mit der Gleitzeit deutlich zufriedener als ohne. Die Schüler können eigenverantwortlich entscheiden, wann sie wie lange schlafen – und wann sie welchen Lernstoff nacharbeiten.

Das  fördert schon auf jeden Fall die Selbständigkeit und lässt einen so auch ein bisschen wachsen. Ich würde das nicht missen wollen.

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