Es gibt eine ganze Reihe erblicher Augenleiden, bei denen die Sehfähigkeit immer schwächer wird – bis die Betroffenen am Ende blind sind. Die häufigste degenerative Erkrankung der Netzhaut heißt Retinopathia pigmentosa (häufig auch bezeichnet als: Retinitis pigmentosa); entsprechend intensiv ist die Forschung an Therapien. 2005 sorgte ein neuer Behandlungsansatz aus Tübingen weltweit für Schlagzeilen: erstmals konnten einige wenige Retinitis-Patienten mit einem implantierten Chip in der Netzhaut wieder Umrisse erkennen.
Bis 2017 wurden weitere Kranke behandelt; in den USA ging ein Konkurrenzunternehmen mit ähnlichem Ansatz an den Start. Heute sind beide Firmen aufgelöst – war der Chip also ein Flop? Und welche vielversprechenden Alternativen gibt es? Das war kürzlich Thema beim Europäischen Retina Meeting in Tübingen. Ulrike Till hat dort mit Fachleuten gesprochen:
SWR2 Impuls: Was ist jetzt die Bilanz des Retinachips, auf den so viele Patienten große Hoffnungen gesetzt haben – ist das Konzept gescheitert?
Ulrike Till: Das Konzept ist noch nicht endgültig gescheitert. Die ersten Anläufe von Retina Implant in Tübingen und Second Sight in den USA waren allerdings auf jeden Fall kommerzielle Flops. Beide Unternehmen sind schon seit vier Jahren nicht mehr aktiv. Das lag auch an hohen Kosten und langwieriger Erstattungsbürokratie. Aber es lag auch an den durchwachsenen Ergebnissen: Prof. Eberhard Zrenner, der den Tübinger Chip entwickelt hat, hat selbst gesagt, dass die Chips noch nicht gut genug waren: nur bei einem Drittel der 65 Patientinnen und Patienten zeigten sich deutliche Fortschritte. Und nur bei drei von ihnen gelang das, worauf alle Behandelten gehofft hatten: sie konnten Gesichter erkennen und nach Jahren ihre Partner wieder lächeln sehen.
Wie funktioniert so ein Netzhautchip?
Ulrike Till: Wichtig ist erstmal, dass die Methode nur bei Menschen funktionieren kann, die früher normal sehen konnten – sonst kann das Gehirn die Signale des Chips nicht richtig deuten. Und die innere Netzhaut muss noch intakt sein. Dann hat der Retinachip eine Chance: darin stecken unter anderem Fotodioden, die Licht in elektrische Signale umwandeln. Diese Signale reizen den Sehnerv, das Gehirn kann sie zu Bildern verarbeiten – allerdings nur in Schwarz-Weiß und weit entfernt vom klaren Sehen eines gesunden Auges.
Mit einer Art Fernbedienung können Patienten selber Kontrast und Helligkeit einstellen. Bei dem amerikanischen Chip-System Argus gehörte noch eine riesige Brille mit einer integrierten Videokamera dazu – das hat aber in der Regel nicht zu besseren Ergebnissen geführt.
Ist es denkbar, dass sich das mit weiterer Forschung ändert?
Ulrike Till: In Tübingen und Zürich suchen kleine Teams weiter nach Ansätzen für verbesserte Retinachips; ein richtig großes Forschungsfeld ist das aber nicht. Trotzdem gibt es spannende Entwicklungen: In Frankreich läuft gerade eine Pilotstudie zum Einsatz von Retinachips bei Patienten mit altersbedingter Makuladegeneration – das wäre natürlich spektakulär, wenn es da bessere Therapien als die derzeit üblichen Spritzen geben könnte. Im Moment ist aber noch völlig offen, ob da etwas draus wird.
Das Grundproblem mit den Retinachips ist ihre begrenzte Lebensdauer: Die ersten hielten überhaupt nur ein paar Wochen, spätere Modelle immerhin knapp fünf Jahre. Die filigrane Technik leidet unter den Körperflüssigkeiten im Auge. Dazu kommt die aufwendige Operation, um den Chip an die optimale Stelle in der Netzhaut einzupflanzen. Wer das auf sich nimmt, will natürlich sicher sein, dass es sich lohnt. In Tübingen war bei dem Retina Meeting sogar ein Patient aus Finnland dabei, der schon zwei Chips eingesetzt bekommen hat...
Was hat der Patient erzählt?
Ulrike Till: Das war sehr bewegend. Miikka Terho hat erzählt, wie er mit seinem ersten Chip für kurze Zeit sehr große Buchstaben oder die Umrisse von Besteck erkennen konnte. Allerdings nur, wenn der Hell-Dunkel-Kontrast sehr stark war. Trotzdem war er begeistert. Leider flackerte alles, was er sah und die Menschen kamen ihm vor wie Gespenster.
Sieben Jahre später hat er es nochmal probiert – der neue, vermeintlich bessere Chip hatte dann zwar kein Flicker-Problem mehr, dafür konnte der finnische Patient keine Umrisse mehr erkennen; auch auf der Straße konnte er sich nicht richtig orientieren. Für ihn war es also nur ein nettes Spielzeug ohne relevanten Nutzen im Alltag. Kürzlich wurde ihm dieser zweite Chip wieder entfernt, jetzt ist er wieder vollkommen blind.
Welche anderen Ansätze sind denn vielversprechend im Kampf gegen Blindheit?
Ulrike Till: Gentherapie ist ein ganz wichtiges Forschungsfeld, da hat sich auch viel getan in den letzten Jahren. Unter anderem ist Luxturna auf den Markt gekommen, die erste Gentherapie für ein seltenes erbliches Augenleiden. Aber die Idee, ein mutiertes Gen zu ersetzen, lässt sich leider nicht einfach auf andere, sehr viel häufigere Krankheiten wie Retinitis pigmentosa übertragen. Da ist nämlich eine Vielzahl unterschiedlicher Gene beteiligt, die man nicht alle auf einmal angreifen kann.
Deshalb setzen Forscherteams weltweit auf einen anderen Ansatz: mit genetischen Methoden das Absterben wichtiger Netzhautzellen zu verhindern. Dabei geht es vor allem darum, die lichtempfindlichen Photorezeptoren zu schützen. Das ist im Prinzip mit verschiedenen genetischen Ansätzen möglich – bisher gibt es erste Erfolge allerdings nur bei Labormäusen, der Sprung zum Menschen ist noch sehr weit.
Könnten Stammzellen ein möglicher Weg sein, eine defekte Netzhaut zu ersetzen?
Ulrike Till: Da gibt es tatsächlich erste Versuche, mit Hilfe von Stammzellen bestimmte Netzhautzellen zu züchten und ins Auge einzusetzen. Das ist aber noch ganz frühe Forschung. Auf der Konferenz in Tübingen gab es dazu auch sehr skeptische Stimmen – denn die neuen Zellen landen ja wieder in einer feindlichen Umgebung und würden vermutlich auch bald absterben. Vielversprechender scheinen da Ansätze mit Optogenetik – die US-Firma Second Sight hat schon klinische Tests gestartet, bei denen ein Protein ins Auge gespritzt wird, das sich durch Lichtreize aktivieren lässt. Die Fachleute bei dem Retina Meeting waren sich letzte Woche einig, dass wahrscheinlich nicht eine Methode allein das Rennen macht – sondern dass es am aussichtsreichsten ist, verschiedene Ansätze miteinander zu kombinieren.