Das Bild zeigt eine OP-Atemschutzmaske auf dem Boden im Dreck liegen. (Foto: IMAGO, Michael Weber)

Medizingeschichte

Medizinhistoriker: Haben Pandemie vergleichsweise gut beherrscht

Stand
MODERATOR/IN
Christine Langer
INTERVIEW
Norbert Paul
ONLINEFASSUNG
Lena Schmidt

Corona begleitet den Alltag seit 2020. Die Pandemie wird sich aber wohl nicht so tief ins kulturelle Gedächtnis einschreiben, wie andere Seuchen, erklärt ein Medizinhistoriker.

Mit verschiedenen Maßnahmen wie der Maskenpflicht, Homeschooling oder Homeoffice hat die Corona-Pandemie alle in unterschiedlichem Ausmaß betroffen – im schlimmsten Fall mit schwerer Krankheit oder dem Tod. Weltweit sind nach offiziellen Zahlen fast 6,7 Millionen Menschen an Corona gestorben. Zuletzt hat sich die Lage jedoch nach und nach entspannt, viele Expertinnen und Experten sprechen inzwischen von einer Endemie.

Im historischen Rückblick wird Corona aber wohl keine so große Zäsur darstellen. SWR2-Impuls Moderatorin Christine Langer im Gespräch mit Medizinhistoriker Norbert Paul von der Universität Mainz.

Ihrer Meinung nach wird die Pandemie wohl keine einschneidende, historische Zäsur. Wie kommt das?

Norbert Paul: Dazu muss man zwei Dinge sagen. Zum einen sind wir bei uns in Mainz Ethiker und Theoretiker. Das heißt, wir haben noch mal einen weiteren Blick auf die Geschehnisse. Und zum anderen ist es tatsächlich so, dass wir – wie Sie richtig sagen – darüber diskutieren, wann eigentlich die Pandemie zu Ende ist. Bei anderen Pandemien gab es nichts zu diskutieren mit der Seuche.

Die Pest und auch die Spanische Grippe sind auf Gesellschaften getroffen, die ermüdet waren, die technisch nicht in der Lage waren, die Situation zu beherrschen, die nicht in der Lage waren, schnell Impfstoffe zu entwickeln, sodass diese Frage, ob sich die Pandemie sozial oder durch politische Entscheidung beenden lässt, erst gar nicht im Raum stand. Sie wurde biologisch entschieden. 

Das Bild zeigt eine mittelalterliche Pestmaske. (Foto: IMAGO, Panthermedia)
Schnabelmasken wie diese sollten im Mittelalter vor einer Ansteckung mit der Pest schützen. Schätzungsweise forderte die Pest 20 bis 50 Millionen Tote und löschte geschätzt ein Drittel der europäischen Bevölkerung aus.

Das heißt, der entscheidende Unterschied ist, dass wir so schnell Impfstoffe und Medikamente entwickeln konnten?

Norbert Paul: Ja, der entscheidende Unterschied ist – und das mag im Rückblick vielleicht auch sehr früh als Diagnose sein – wir haben am Anfang zwar nicht gewusst, was uns da begegnet, aber wir haben sehr schnell die Mittel und Möglichkeiten gehabt, die Pandemie zu erklären.

Also es war relativ klar, was das für ein Virus ist, dass es ein häufiges Virus ist: Coronaviren sind überall. Und dass dies eine spezielle Variante war. Man hatte im Prinzip die Wissenschaft an den Fingerspitzen, um mit der Situation umgehen zu können.

Und die frühen, verunsicherten Debatten – zum Beispiel, ob Masken etwas taugen oder nicht – sind letztendlich der Tatsache geschuldet, dass wir von der Normalität in eine Ausnahmesituation übergehen mussten. Und dass viele Entscheidungen unter Unsicherheit gefallen sind, weil niemandem so recht klar war, wie pathogen, also wie krankmachend, ist diese Seuche? Und was haben wir zu erwarten?

Das ist in unserer medialen Gesellschaft natürlich auch immer mit der Produktion von Ängsten verbunden. Die politische Situation rund um Corona haben wir alle miterlebt. Auch die Reaktionen in der Bevölkerung haben wir alle miterlebt. Trotzdem muss man, denke ich, dabei bleiben, dass wir mit unseren Werkzeugen ganz gut gerüstet waren, um rational mit der Pandemie umzugehen. 

Dennoch hat es uns alle sehr stark beeinflusst. Warum wird die Pandemie denn rückblickend trotzdem nicht so einschneidend sein oder nicht als so einschneidend empfunden werden? 

Norbert Paul: Das eine ist schon gesagt: Wir haben die Pandemie vergleichsweise gut beherrschen können. Einschneidend empfunden wurde aber, glaube ich, dass wir uns alle allmählich daran gewöhnen müssen, dass unser Alltag nicht frei von Zufällen und existentiellen – wir sagen immer „kontingenten“ – also nicht beherrschbaren Prozessen ist.

Wir wissen, morgens kommt sauberes Wasser aus der Leitung, in der Regel ist der Kühlschrank gefüllt. Und diese Pandemie hat uns tatsächlich klargemacht, dass diese Kruste der technologischen Beherrschbarkeit relativ dünn ist. Also deswegen einschneidend.

Aber: Wir haben immerhin die Möglichkeiten gehabt, unser Zusammenleben aufrechtzuerhalten in einem gewissen Maß und nicht ganz unbeschadet, aber recht unbeschadet aus der Pandemie hervorzugehen.

Wir werden – und das ist wahrscheinlich die schlechte Nachricht an dieser Einschätzung – in Zukunft viel häufiger mit kontingenten Ereignissen wie Seuchen oder zum Beispiel einer Belastung des Trinkwassers umgehen müssen.

Das bedeutet, die Sicherheit, in der wir uns viele Jahrzehnte befunden haben – wenn auch nur gefühlt – wird weiter abnehmen. Von Krieg mal ganz zu schweigen, der uns jetzt nochmal vor ganz andere Herausforderungen stellt. Vor diesem Hintergrund, denke ich, ist die Pandemie für unser persönliches Erleben einschneidend, aber in gesamthistorischer Sicht tatsächlich eine Episode.

Wird sie trotzdem in der Geschichte eine Rolle spielen?

Norbert Paul: Absolut. Ich denke, das, was deutlich geworden ist – das sage ich jetzt natürlich auch als Wissenschaftler – ist, dass die Rolle der Wissenschaft mit anderen Augen gesehen werden muss. Es ist klar, dass Wissenschaft ein Diskurs ist. Der wissenschaftliche Experte hat eine Meinung, der nächste Experte eine andere. Man kann also aus wissenschaftlicher Expertise niemals ganz direkt politisches Handeln ableiten.

Das Bild zeigt drei Stellvertreter und eine Stellvertreterin des Corona-Expert*innenrates der Bundesregierung. (Foto: IMAGO, Jürgen Heinrich)
Vor allem die Stimmen einiger Virologinnen und Virologen wurden im Zuge der Corona-Pandemie prominent und sorgten oft für Aufklärung oder auch Diskussionsstoff. Einige Expertinnen und Experten beraten die Bundesregierung auf der Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse zur COVID-19 Pandemie. Auf dem Bild sieht man v. l. stellvertretend für den Corona-Expert*innenrat Prof. Christian Karagiannidis, Prof. Heyo Kroemer, Prof. Leif Erik Sander und Prof. Cornelia Betsch.

Auf der anderen Seite haben wir, glaube ich, gelernt, dass ohne diese wissenschaftliche Expertise das Handeln stets unter Unsicherheit ist. Ich glaube, da haben wir unsere Lektion gelernt, dass Bildungswissenschaft als Ressource eine deutlich größere Rolle spielt – auch im Hinblick zum Beispiel auf die Bewältigung der Folgen von Umweltschäden, die wirklich unabdingbar und relativ zeitnah auf uns zukommen werden und die wir auch schon erleben. Ich will jetzt nicht noch vom Ahrtal sprechen, aber das ist sicherlich etwas, was uns begleitet in den nächsten Jahren. 

In einem anderen Interview haben Sie das Wort „bemerkenswert“ benutzt. Inwiefern trifft das auf die Corona-Panedmie zu?

Norbert Paul: Die Pandemie ist auf jeden Fall keine Epoche einer Normalität. Es ist ein historisch vergleichsweise kurzer Zeitraum, wenn wir uns schon nach drei Jahren überlegen: „Die Seuche ist vorbei“. Denken Sie an die Spanische Grippe, die nur so schnell geendet hat, weil sie extreme Sterblichkeitszahlen mit sich gebracht hat und doch auch viele Jahre in Europa und weltweit gewütet hat. In den USA insbesondere in ganz erheblichem Ausmaß.

Denken Sie an die Pest, die über Jahrzehnte in Europa endemisch war und zunächst als Seuche ein Drittel der Bevölkerung dahingerafft hat. Man wusste gar nicht, was das ist. Man hatte überhaupt keine Vorstellung, woher dieser sogenannte Schwarze Tod kam.

Das sind Epochen, die haben sich tief kulturell in unsere Gedächtnisse eingeschrieben. Bis hin zu Redewendungen, dass man sich die Pest an den Hals wünscht. Oder dass man in der Stadt der guten Luft wohnt, in der die Pest keine Chance hat – in dem Fall Buenos Aires. Da bezieht es sich dann auch noch auf andere Krankheiten.

Das haben wir in der Form wahrscheinlich mit Corona nicht zu erwarten. Das ist natürlich eine Prognose, die extrem schwierig ist, weil man die Entwicklung der kulturellen Verarbeitung nicht absehen kann.

Was wir wohl wissen, ist, dass wir einen neuen Impuls gerade gesetzt haben oder setzen müssen. Uns ist doch aufgefallen, dass unsere Gesellschaft einen gewissen Adultismus pflegt, also auf Erwachsene bezogen ist und sich die Welt aus der Sicht der Erwachsenen zurechtgelegt. Und die Rolle, die Kinder, Jugendliche und junge Heranwachsende in der Pandemie gespielt haben, zeigt, dass wir da extrem was verändern müssen. Es wäre wünschenswert, wenn die Pandemie in dieser Hinsicht keine Episode bliebe.

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