Wie wird sich das Coronavirus ausbreiten? Wie viele Opfer wird es kosten? Welche Maßnahmen können helfen? Noch ist es ein Blindflug ohne ausreichende Daten. Doch Forscher rechnen fieberhaft am Szenario der Zukunft.
Vorhersagen zum weiteren Verlauf der Corona-Pandemie können nur mit Hilfe von komplexen Modellen getroffen werden können. Der Epidemiologe Martin Eichner aus Tübingen ist einer der Wissenschaftler, die so versuchen, das Virus zu verstehen. Für ihn bilden die Modelle zwar nicht die Realität ab, sie können aber helfen, Entscheidungen zu fällen.
Auf der Internetseite: http://covidsim.eu/ hat er seine Simulationen veröffentlicht. Hier kann der Nutzer verschiedene Parameter wie Bevölkerungszahl oder Simulationsdauer verändern aber auch Dauer und Stärke von Eindämmungsmaßnahmen.

Ausweg aus der Pandemie: Es bleibt ein Zwiespalt
Je präziser die Ausgangsdaten sind, um so besser können die Modelle helfen, den Verlauf der Coronapandemie vorherzusagen und Entscheidungen zu treffen. Doch eines lässt sich wohl nicht ändern, so Martin Eichner:
„Wenn wir überhaupt nix unternehmen, dann geht es sehr schnell und es wird sehr schmerzhaft. Dann kommt eben eine große Krankheitswelle auf uns zu. Je mehr wir dagegen unternehmen, dass diese fürchterliche Welle kommt, desto länger dauert es bis wir die Immunität haben in der Bevölkerung. Hier haben wir einen Zwiespalt. Einerseits wollen wir nicht dass alle gleichzeitig krank werden, es so schlimm kommt. Andererseits wollen wir, dass wir es schnell hinter uns haben, aber beides gemeinsam geht nicht.“
Eine Simulation, die die Washington Post veröffentlicht hat, zeigt eindrücklich, wie sich ein Virus ausbreitet und was es bedeutet, wenn die Infektionszahlen exponentiell zunehmen.

Szenario 1 - Ungebremste Ausbreitung.
Die Bevölkerungszahl wird mit 83 Millionen Personen angenommen (Deutschland = 83,2 Mio). Die Simulation dauert 365 Tage ab Einschleppung des Virus.
→ Ca. 130 Tage (das wäre etwa Juni) nach der ersten Infektion erreicht die Zahl der Infizierten ihren Höhepunkt: Gut die Hälfte der Bevölkerung ist infiziert. Danach sinkt die Zahl der Infizierten und erreicht nach 260 Tagen Null (also etwa September). Gleichzeitig sinkt die Zahl derjenigen, die sich anstecken können auf etwa 5 Millionen Menschen; die Zahl der Immunisierten stiegt auf 78 Millionen Menschen.
Ergebnis: Das Virus kann sich nicht mehr ausbreiten. Je nach dem, wie hoch die Letalität (Tödlichkeit) durch die Viruserkrankung ist, werden zu diesem Zeitpunkt einige hundert Tausend Menschen an der Infektion gestorben sein. Wenn man von einer durchschnittlichen Tödlichkeit des Virus von ca 0,4% ausgeht führt dieser Wert zu insgesamt etwa 300.000 Todesfällen nach einem Jahr.

Shut Down bedeutet erstmal nur Verzögerung
Martin Eichners Simulation zeigt, wie sich der Zeitpunkt eines Shut Downs oder einer Kontaktreduzierung auf die Infektionsausbreitung auswirken:
„Wenn wir jetzt den Kontakt unterbinden und das tun wir ja fleißig. Dann verhindern wir damit Infektionen. Das hat unterschiedliche Auswirkungen je nach dem, wann diese Infektionen verhindert werden. Wenn man das sehr früh macht, dann verhindert man damit im wesentlichen die Ausbreitung. Verhindert aber auch gleichzeitig, dass sich die Leute immunsieren. Wenn man das sehr stark macht, wie wir das grade tun, dann können wir hier Zeit gewinnen. Wenn wir damit aber irgendwann aufhören, dann sind wir im wesentlichen so weit wie vorher.“
Dargestellt sind die Zahl der Infizierten (Infected = rot); die Zahl derjenigen, die sich mit dem Coronavirus anstecken können (Susceptible = blau) und die Zahl derjenigen, die nach einer Erkrankung immunisiert sind (Recovered = grün). Werden die Kontakte zwei Monate 80 Tage nach der ersten Infektion um 60 % reduziert, wird der Peak um 50 Tage nach hinten verschoben. Das Ergebnis am Tag 260 ist das Gleiche wie ohne Maßnahmen: ca. 78 Mio Immunisierte, ca. 5 Mio Menschen sind noch anfällig und etwa 300.000 Todesfälle.
Szenario 2 zeigt, dass zeitlich begrenzte Maßnahmen vor allem Zeit bringen. Das Gesundheitssystem wird weiterhin überlastet werden.
Um das zu verhindern, werden bei Wiederanstieg der Infektionszahlen erneut Maßnahmen (Kontaktreduzierung) nötig sein. Das Imperial College hatte am 16. März 2020 diese Strategie vorgestellt (S. 12, Fig 4), bei der ab einer bestimmten Zahl von Intensivfällen, Übertragungs verhindernde Maßnahmen ergriffen werden.

Konzept Hammer and Dance
Südkorea setzt darauf, infizierte Personen zu identifizieren und konsequent zu isolieren. Wer mit Infizierten Kontakt hatte, wird per Smartphone-App gewarnt. Maßnahmen die ausgesprochen erfolgreich zu sein scheinen: So werden die Infektionszahlen niedrig gehalten. Die Folge ist aber auch, dass wenig Menschen immunisiert werden.
Das heißt, so lange ein massenhafter Ausbruch verhindert werden soll, müssen auch die Maßnahmen immer wieder aktivierbar sein. Im Modell gibt es sogar kurze Zeiten der Entspannung; also Zeiten in denen es keine Kontaktsperren oder ähnliches geben muss. Das Modell zeigt aber auch, dass dieser Zustand der unterdrückten Pandemie sehr lange andauern wird. Im Zweifel dauert es, bis eine Impfung zur Verfügung steht.

Langwierig und auch schmerzhaft
- Szenario 3-lang – Getriggerte Bekämpfung der Infektionswelle (1% / 1 Jahr)
Sobald der Anteil der Infizierten ein Prozent (1 %, also fast 1 Mio Infizierter) der Bevölkerung überschreitet, kommt es wieder zur Kontaktreduzierung, sobald der Anteil an Infizierten unter einem Prozent liegt, werden die Maßnahmen beendet. Das Virus kann sich wieder ungehindert ausbreiten.
→ Der Peak wird durch die erste getriggerte Kontaktreduzierung deutlich abgesenkt. Nach 260 Tagen gibt es fast 100.000 Todesfälle; nach einem Jahr sind es fast 140.000. Gut 36 Mio Menschen sind immunisiert und 46 Mio Menschen sind weiterhin anfällig für eine Coronainfektion. Verlängert man die Zeitachse, dann wird klar, dass bei diesem Szenario die Maßnahmen zur Übertragungsreduzierung bis Mitte 2021 immer wieder ergriffen werden müssen.

- Szenario 3-lang – Getriggerte Bekämpfung der Infektionswelle (1% / 2 Jahre)
→ Nach zwei Jahren sind 59 Millionen Menschen immunisiert und 24 Mio Menschen weiterhin anfällig. Eine Herdenimmunisierung ist erreicht: Das Virus kann sich nicht mehr ausbreiten. Es gab insgesamt fast 240.000 Todesfälle, also etwa 60.000 weniger als bei Szenario 1 der ungebremsten Ausbreitung.
Derzeit geht man davon aus, das eine Herdenimmunisierung erreicht ist, wenn etwa zwei Drittel der Bevölkerung die Infektion überstanden haben.
Es liegt nahe, zu schauen, wie sich die lange Zeit von fast zwei Jahren Coronakrise verkürzen lässt. Eine mögliche Stellschraube wäre es, mit den Eindämmungsmaßnahmen erst zu beginnen, wenn bereits drei Prozent, also knapp 2,5 Millionen Menschen infiziert sind.

- Szenario 3-kurz -Getriggerte Bekämpfung der Infektionswelle (3 % / 1 Jahr)
→ Tatsächlich lässt sich die Coronakrise verkürzen. Sollten Maßnahmen erst starten, wenn bereits drei Prozent der Bevölkerung infiziert sind, dann wären bereits nach einem Jahr die Maßnahmen beendet. Allerdings bedeutet das auch, das täglich fast doppelt so viele Todesfälle auftreten. Innerhalb von zwei Jahren würden im Schnitt fast zehn Prozent mehr Menschen am Coronavirus sterben, als im Szenario 3-lang
Beispielszenarien zeigen, wie schwer es ist, den richtigen Weg zu finden.
Die Modelle bilden nicht die zu erwartende Realität ab, aber sie geben einen Eindruck davon, was welche Strategien bewirken. Die genannten Zahlen und Zeiten können nur innerhalb der obigen Modellrechnungen im Verhältnis zueinander betrachtet werden.
Bislang fehlen brauchbare Werte für die Ausgangsvariablen wie Übertragbarkeit und Tödlichkeit des neuartigen Coronavirus. Die Berechnungen berücksichtigen nicht, dass es im Laufe der Zeit bessere Behandlungsmethoden oder gar eine funktionierende Impfung geben könnte. Bessere Behandlungsmethoden würden die Todesfallzahlen reduzieren. Der Pandemieverlauf würde sich dadurch nicht ändern. Eine funktionierende Impfung würde die Infektionszahlen ab der flächendeckenden Einführung beenden.