Steht Infektionsschutz über der Menschenwürde? Besuchsverbote haben Angehörige traumatisiert und Ethiker entsetzt. Denn allein sterben ist unmenschlich. Wissenschaftler arbeiten daran, diese Missstände für weitere Pandemien zu vermeiden.

Marion D.s demente Mutter ist im ersten Lockdown gestorben. Nicht an Corona, sondern an den Folgen einer schweren Blasenentzündung. Die 83-Jährige wurde zuvor zwischen Klinik und Pflegeheim hin- und her geschoben. Wegen der Besuchsverbote dort konnte die Tochter ihre Mutter in der Sterbephase nicht richtig begleiten. Jetzt muss Marion D. nicht nur den Tod eines ihrer wichtigsten Menschen verkraften. Sie muss auch noch damit fertig werden, dass sie ihre Mutter in einer der schwersten Zeiten des Lebens allein lassen musste. „Ich hab‘ wirklich überlegt, wie ich nachts in dieses Pflegeheim einsteige, um meine Mutter zu besuchen“, erinnert sich die 54-Jährige mit großem Schmerz.
Bittere Normalität

Geschichten wie diese gibt’s während der Corona-Pandemie viele. In Kliniken und Heimen wurde Infektionsschutz über die Menschenwürde gestellt, sagen Kritiker. Nach Ansicht der Vorsitzenden des Europäischen Ethikrates Christiane Woopen eine menschliche Katastrophe: „Es ist grausam. Denn in der letzten Zeit des Lebens unbegleitet zu sein, bedeutet, unter nicht würdevollen Umständen zu sterben“. Doch es wurden nicht nur die Bedürfnisse von Sterbenden und deren Angehörigen ignoriert. Auch viele Pflegebedürftige in Heimen wurden von der Außenwelt komplett abgeschottet. „Von März bis Juni durfte ich keinen Besuch bekommen,“ berichtet die 81-Jährige Sigrid K. Sie lebt in einem Pflegeheim in Schönaich bei Stuttgart. „Das war wie im Gefängnis.“
Einsamkeit macht krank

Die Medizinethikerin Prof. Christiane Woopen hat zahlreiche E-Mails von Angehörigen erhalten. „Da heißt es: Mein Vater ist nicht an Covid gestorben, sondern wegen Covid.“ Laut Sterbestatistiken gab es zwar bislang nicht mehr Tote durch die Besuchsverbote. Dennoch weisen Studien darauf hin, dass Einsamkeit krank macht und die Sterblichkeit durch soziale Isolation auf Dauer steigt. Umso wichtiger ist die echte Zuwendung und Fürsorge des Pflegepersonals. Doch die kostet Zeit. Und Zeit ist in der Pflege Mangelware.
Pflege über dem Limit

Überforderung, Inkompetenz und schlechte Ausstattung – auch schon vor Corona war die Situation in vielen Pflegeheimen prekär. „Durch die Pandemie ist der massive Pflegenotstand schlagartig noch sichtbarer geworden“, meint Claus Fussek. Der renommierte Pflegeexperte kämpft seit vielen Jahren gegen die Zustände in deutschen Pflegeheimen. „Das heißt, die Grundversorgung, die häufig früher schon nicht funktionierte, die ist natürlich jetzt kollabiert.“ Täglich erhält er Hilferufe von Angehörigen, aber auch von Pflegekräften. Während des ersten Lockdowns war die Verzweiflung besonders groß.
Zweite Corona-Welle – zu wenig Besserung?

Verantwortliche Entscheider sind sich der problematischen Auswirkungen von Besuchsverboten für Patienten und Angehörige durchaus bewusst. Vielerorts gibt es Bemühungen, es jetzt in der zweiten Welle besser zu machen. Trotzdem sind mittlerweile schon wieder mehrere Häuser für Angehörige geschlossen. Nicht so bei der Evangelischen Heimstiftung aus Stuttgart. Die Betreiber der 90 Pflegeheime haben es bisher noch geschafft, mit strengen Regeln und Schnelltests und trotz mehrerer Corona-Fälle alle ihre Häuser offen zu halten. Dennoch gibt es Unmut bei der Heimleitung. Denn etwa bei der Beschaffung der Schnelltests seien die „besonders gefährdeten Menschen“ von Seiten der Regierung wieder mal nicht priorisiert worden.
Infektionsschutz und würdiges Sterben verbinden

Eine Sterbebegleitung, die den Namen verdient und die die Würde der Menschen bewahrt ist das Ziel von Steffen Simons. Der Palliativmediziner ist Teil eines Forschungsnetzwerkes aus 12 Universitätskliniken.[1] In einer Studie werden gerade wissenschaftlich fundierte Empfehlungen für Klinik- und Pflegeheimbetreiber erstellt, die eine würdevolle Palliativversorgung in Pandemie-Zeiten sicherstellen sollen. „Der Infektionsschutz kommt ja in so ´ner Zeit schnell als absolut daher – das ist er nicht,“ erklärt Simon. Wichtig sei es, auch individuelle Bedürfnisse gerade in so existenziellen Phasen, wie der Sterbephase mit zu berücksichtigen. Im März 2021 sollen erste Empfehlungen vorliegen. Für viele Menschen kommt das jedoch zu spät.