Dating-Plattformen, Online-Pornoanbieter und Onlineshops für Sexspielzeug vermelden eine enorme Nachfrage von Seiten der Nutzer*innen. Doch können technische Werkzeuge eine zärtliche Berührung wie ein Streicheln ersetzen?
Von der Sehnsucht nach sanfter Berührung
Streicheleinheiten tun gut – auch weil sie die Biochemie unseres Körpers verändern. Aber was, wenn sanfte Berührungen fehlen?
Viele Bereiche unseres Lebens finden inzwischen online statt. Die Kontaktbeschränkungen während der Pandemie scheinen diesen Trend weiter verstärkt zu haben. Abstandhalten statt körperlicher Nähe, Videochats statt echtem Treffen, Onlinedating statt Flirten im Club. Soziale Plattformen aller Art berichten, dass sie gerade während der Lockdowns einen deutlichen Zuwachs an User*innen und Nutzungszahlen in Rekordhöhe beobachten konnten. Trotz aller digitalen Möglichkeiten, sich mit anderen zu vernetzen – etwas Entscheidendes scheint die Technik nicht befriedigen zu können: das urmenschliche Bedürfnis nach körperlicher Nähe.
„Wenn wir alle glücklich und zufrieden hinter unseren Laptops unser Leben ableben könnten, dann wäre ja alles gut“, so der Psychologe Martin Grunwald. „Aber so ist es eben nicht.“ Grunwald leitet das Haptik-Forschungslabor der Universität Leipzig. Er und sein Team erforschen dort die komplexe Biologie der menschlichen Berührung. Ihre Ergebnisse bestätigen: Körperkontakt scheint für uns Menschen essenziell zu sein – ohne Berührungen können wir offenbar nicht gut leben.
Sehnsucht nach Berührung
Menschliche Berührung lässt sich durch nichts ersetzen – dass Haptikforscher*innen wie Grunwald so argumentieren, überrascht nicht. Allerdings ließ sich die Sehnsucht nach Berührung in den vergangenen Monaten auch dort ablesen, wo sie nicht unbedingt gestillt werden kann: online – in den sozialen Medien. Auch die Dating Plattform Tinder beschrieb in einem Report Anfang 2021 dieses Phänomen.
Auf Tinder hätten sich die Auswirkungen der Kontaktbeschränkungen im Jahr 2020 deutlich gezeigt: Die unschuldigsten Arten von Körperkontakt seien dort hoch im Kurs gestanden. Viele hätten sich nach Händchenhalten, Kuscheln oder jemandem gesehnt, der ihre Haare streichelt. Dabei sei auf Tinder die Verwendung des Wortes „kuscheln“ um 23 Prozent und die des Wortes „Händchenhalten“ um 22 Prozent gestiegen.

Die Sprache der Berührung ist universell. Sie ist die erste, die wir lernen und sie begleitet uns ein Leben lang. Mit ihrer Hilfe können wir anderen gegenüber erstaunlich genau und dabei unmittelbar unsere Gefühle ausdrücken. Ob eine tröstende Umarmung oder ein sanftes Streicheln: Berührungen vermitteln uns das Gefühl, nicht alleine zu sein. Sie beeinflussen unsere Gefühle und unser Denken.
Wer die Kraft der menschlichen Berührung verstehen will, muss den Blick auf ein besonderes Sinnesorgan werfen: unsere Haut. Sie ist mit etwa zwei Quadratmetern unser größtes und evolutionsgeschichtlich auch unser ältestes Sinnesorgan. Tatsächlich scheint der menschliche Körper dafür ausgelegt zu sein, auf Berührungen zu reagieren und zwar nicht nur, um tastend wahrzunehmen, was ihn umgibt. Wir besitzen ein Netzwerk spezieller Nervenfasern in unserer Haut, das zwischenmenschliche Berührung erkennt. Diese speziellen Nerven, eigens für den Streichelsinn, sind die C-taktilen Fasern.
DIE Nervenhotline für Streicheleinheiten
C-taktile Fasern finden sich dort, wo Haare in der Haut verankert sind und reagieren auf Reize, die einem Streicheln entsprechen: sanfte, dynamische Berührungen mit einer Geschwindigkeit von 1 bis 10 Zentimetern pro Sekunde. Verglichen mit Nerven für den Tastsinn arbeiten C-taktile Fasern deutlich langsamer.
Denn während Tast- und andere Berührungsreize schon nach wenigen Millisekunden das Gehirn erreicht haben, kommen Streichelreize erst nach ein bis zwei Sekunden dort an. Auch das Aktivierungsmuster im Gehirn, das Streichelreize auslösen, unterscheidet sich von dem anderer Berührungsreize: neben Regionen, die die Verarbeitung von Berührungs- und Tastsinnreizen übernehmen, aktivieren sie Hirnregionen, die mit der Verarbeitung von sozialen, emotionalen und belohnenden Reizen zu tun haben.

Streicheleinheiten tun gut, weil sie die Biochemie unseres Körpers verändern: Unser Gehirn schüttet einen komplizierten Cocktail von Botenstoffen aus. Die bewirken zum Beispiel, dass der Blutdruck sinkt, Puls und Atmung langsamer und Stresshormone abgebaut werden. Kurzum: Wir fühlen uns besser, atmen auf, kommen runter. Sanfte Berührungen sind nicht nur eine Art Stressregulativ, sondern werden auch mit einer ganzen Reihe von positiven Effekten in Zusammenhang gebracht und sollen uns physisch wie psychisch stärken können.
Streicheln deluxe: 3cm/s bei 32°C
Im Durchschnitt werden wir am liebsten mit einer Geschwindigkeit von 3 Zentimetern pro Sekunde und einer Temperatur von etwa 32 Grad Celsius gestreichelt. Was sich nach kompliziertem Formelwerk anhört, ist schnell geklärt: Menschen nutzen intuitiv genau diese Geschwindigkeit, wenn sie andere zärtlich streicheln – während 32 Grad Celsius in etwa der Temperatur menschlicher Fingerspitzen entspricht.
Aber was passiert, wenn solche Berührungen und ihre positiven Effekte fehlen? Wer einsam ist und ohne Partner lebt, hat Studien zufolge eine kürzere Lebenserwartung und eine höheres Krankheitsrisiko. Das könnte auch mit dem Mangel an Körperkontakt zusammenhängen, unter dem diese Menschen möglicherweise leiden.
Und wie schätzt Haptikforscher Grunwald die Auswirkungen von fehlendem Körperkontakt ein, wie etwa während der Kontaktbeschränkungen in den letzten Monaten? „Nicht jeder Mensch reagiert gleichermaßen auf Kontaktmangel, denn der Bedarf an Körperkontakt unterscheidet sich von Mensch zu Mensch“, so Grunwald. „Bei Menschen mit einem sehr starken Bedürfnis kann das Leiden so groß werden, dass psychiatrische Hilfe notwendig ist – während andere mangelnden Körperkontakt besser kompensieren oder andere Strategien haben, um mit Kontaktmangel umzugehen. Das sind sehr individuelle Verhaltensweisen, die man nicht verallgemeinern kann.“
Die Entdeckung der C-taktilen Fasern
Anfang der 1990er Jahre beschrieb ein schwedisches Forscherteam die bis dahin unentdeckten C-taktilen Fasern zum ersten Mal, die sie in behaarter, menschlicher Haut gefunden hatten. Obwohl von manchen Wissenschaftler*innen längst vermutet, kam man der Funktion der C-taktilen Fasern als eine Art „Streichelsensoren“ erst in den 2000er Jahren auf die Schliche. Wieder waren es schwedische Forscher*innen – einer von ihnen, Håkan Olausson, war bereits an deren Entdeckung beteiligt gewesen. Er und sein Team beobachteten, dass ein Mensch ohne Tastsinn trotzdem Streicheleinheiten wahrnehmen konnte: Anders als die Nervenfasern für den Tatsinn waren bei diesem Menschen die C-taktile Fasern intakt – ein entscheidender Nachweis für ihre Funktion als eine Art Streichelsinn-Rezeptoren.
Linktipps:
Erstbeschreibung der C-taktilen Fasern
Die Entdeckung der C-taktilen Fasern als Nerven eigens für den Streichelsinn
Laufende Forschungsprojekte des Haptiklabors der Uni Leipzig
Buchtipps:
Martin Grunwald
Droemer Knaur Verlag, 2017, ISBN 9783426277065, 3426277069
287 Seiten, 19,99 Euro
Rebecca Böhme
C.H. Beck Verlag, 2019, ISBN 9783406725913, 3406725910
192 Seiten, 14,95 Euro