Recycling ist schlechter als sein Ruf - denn obwohl wir fleißig Wiederverwertung betreiben, wachsen die Verpackungsberge Jahr für Jahr weiter an. Besser wäre es doch, Verpackungen gar nicht erst zu verbrauchen. Das Konzept Precycling - zu Deutsch Verpackungsvermeidung - könnte uns weiterbringen.
Deutschland ist Europameister im Verpackungs- und Ressourcenverbrauch. Fast 19 Millionen Tonnen an Verpackungsmüll fliegen jedes Jahr in die Tonne – Tendenz steigend. Recycling kann das Abfallaufkommen nicht reduzieren, so Umweltexperte Thomas Fischer von der Deutschen Umwelthilfe in Berlin. Ergänzend müssen Abfälle vermieden und Verpackung wiederverwendet werden – Stichwort: Precycling.
Anders als beim Recycling, wo Verpackungsmüll wiederaufbereitet wird, soll dieser dank Precycling gar nicht erst entstehen. Precycling ist also Verpackungsvermeidung. Probleme dort anpacken, wo sie entstehen. Das ist das Motto. So gerät Verpackungsmüll gar nicht erst in den Wirtschaftskreislauf: Pre-Cycle also.
Fachleute sehen das Potenzial, mit Precyling zwischen 20 und 50% an Verpackungen einzusparen. Vorausgesetzt, Konsumierende, Industrie und Handel ziehen an einem Strang. Was muss passieren, damit das funktioniert?

Schritt 1: Verpackungsverweigerung
Viele Lebensmittel stehen verpackungslos zur Verfügung. Wer selbst kocht, verzichtet auf verpackungsintensive Fertigprodukte. Wer Leitungswasser trinkt, spart überflüssiges Einwegplastik. Beides tut nicht nur der Umwelt gut, sondern auch der Gesundheit:
„Leitungswasser wird wahnsinnig gut getestet. Wenn da irgendwas drin ist, dann hört man das sofort, dann wird gestoppt, dann wird manchmal auch gechlort, was natürlich nicht gut schmeckt, aber für die Gesundheit viel besser ist. Und umgekehrt bei verpacktem Flaschenwasser kann ich mich nicht erinnern, dass man da mal eine Nachricht hatte, was da alles drin ist.“
Wie Precycling in unsere Gesellschafft integriert werden kann, daran forscht Soziologin Dr. Elisabeth Süßbauer. In Verbraucherstudien und Pilotprojekten mit großen Handelsketten will ihre Forschungsgruppe an der TU Berlin herausfinden, welche Precyling-Maßnahmen die größten Effekte haben. Projektpartner ist unter Anderem der Berliner Verein „a tip:tap“, der das Trinken von Leitungswasser fördert.

Schritt 2: Verpackungsreduktion
Ist Verpackung unumgänglich, lässt sich der Müll dennoch reduzieren. Ein verbessertes Verhältnis zwischen Produktmenge und Verpackung ist hier der Schlüssel. Dabei gibt es verschiedene Tricks.
Produkte verschiedener Anbieter unterscheiden sich im Verpackungsaufkommen. Den Einweg-Seifenspender durch Stückseife zu ersetzen, kann den Verpackungsaufwand beim Händewaschen bereits halbieren. Außerdem steigt das Verpackungsvolumen nicht proportional zum Inhalt an. Wer zum großen Joghurtbecher statt zum Vierer-Pack greift, hat effektiv Verpackung vermieden. Eine dritte Strategie ist die Nachfüllpackung. Das Konzept hat nischenweise schon Fuß gefasst, bei Unverpackt-Läden zum Beispiel. Aber auch die großen Player wie Aldi, Rossmann und DM setzen nachfüllbare Produkte und Nachfüllstationen bereits in einigen Filialen ein.

Schritt 3: Mehrwegnutzung
Da Verpackung schließlich der Portionierung und dem Schutz der Produkte dient, lässt sie sich nicht komplett weg-sparen. Führt kein Weg an der Verpackung vorbei, sollte diese doch zumindest mehrfach verwendbar sein. Auch so kann Verpackungsmüll vermieden werden.
Die gute Nachricht: ein hohes Potential für Mehrwegsysteme bieten gerade die Spitzenreiter in Sachen Einweg-Verpackung, nämlich Getränkehandel, To-Go Gastronomie und der Online-Versand. Neben dem etablierten Getränke-Pfandsystem erprobt auch der Versandhandel Mehrweg-Taschen. Selbst in der Gastronomie gibt es immer mehr Anbieter für Retoursysteme von To-Go Verpackungen.
„Mehrweg spielt eine ganz wichtige Rolle beim Thema Abfallvermeidung, denn jede Verpackung, die wiederverwendet wird, spart die energie- und ressourcenintensive Neuherstellung einer Einwegverpackung ein und deshalb müssen wir versuchen diesen Mehrwegansatz auszuweiten.“
Gutes Konzept – schleppende Umsetzung: Warum der Handel beim Precycling nicht anbeißt
Mehrwegsysteme sind vielversprechend. Leider wirken sie aktuell dem deutschlandweiten Trend nur wenig entgegen. Denn tatsächlich sinkt der Anteil an Mehrweg-Getränkeflaschen seit Jahren. Auch der Verpackungsverbrauch aus Versandhandel und Gastronomie erreicht mittlerweile ein stolzes Gewicht von 1.200.000t pro Jahr – auch hier ist die Tendenz steigend. Was macht Precycling für Unternehmen so unattraktiv?
In den Augen des Umweltexperten Thomas Fischer ist die Antwort einfach: Mehrweg lohnt sich nicht – weder finanziell noch organisatorisch. Bequemer sei es, sich nach dem Verkauf nicht weiter um Verpackung kümmern zu müssen. Das spart den Logistikaufwand für ein Retour-System. Sind Mehrwegsysteme erst einmal im großen Stil etabliert, können standardisierte Verfahren den Aufwand allerdings erheblich senken. Das hofft auch Wilfried Batzke, Geschäftsführer des Deutschen Verpackungsinstituts:
„Mehrweg ist ein interessantes Thema. Natürlich für die Getränkebranche, da wird schon lange darüber diskutiert. Aber es könnte auch interessant sein für andere Branchen (…) Die Herausforderung besteht darin, dass man standardisieren muss, dass man möglichst große Pools schaffen muss, um einheitliche Mehrwegkisten oder Kästen oder Behälter oder Taschen oder wie auch immer für eine möglichst große Anzahl von Nutzern zu haben. Und da gibt es auch ein riesiges Potential aus meiner Sicht“
Aber warum nutzt die Verpackungsindustrie dieses Potential nicht stärker? Lässt sich mit Einwegverpackungen einfach mehr Geld verdienen?

Motivationstief Precycling: Anreize aus der Politik notwendig
Kritiker sehen die Verantwortung auch in der Politik. Die müsse Anreize schaffen, um Precycling attraktiv zu machen. Die Bundesregierung führt deshalb 2023 eine Angebotspflicht für Mehrweglösungen ein, allerdings nur für die To-Go Gastronomie und das zu bestimmten Konditionen. Ob ein Mehrwegangebot überhaupt eine Mehrwegnutzung sicherstellt, das stellt Umweltschützer Thomas Fischer von der Deutschen Umwelthilfe in Berlin allerdings infrage.
Eine mögliche Lösung: Die Ressourcensteuer. Sie könnte nicht nur das Einweg-Geschäft schwächen, sondern Mehrwegkonzepte auch finanziell unterstützen. Von Verboten in der Verpackungsindustrie hingegen sehen selbst Kritiker ab. Die Soziologin Elisabeth Süßbauer, die an der TU Berlin am Potenzial von Precycling forscht, begründet das anhand der Heterogenität des Verpackungsmarkts: „Was in dem einen Fall vielleicht richtig sein könnte, ist im anderen Fall völlig falsch.“
Die Zukunft des Precycling – was nun?
Es liegt an uns Verbraucher, ob wir in Zukunft unser Konsumverhalten zugunsten der Umwelt ändern. Der gute Wille allein reicht allerdings nicht - Precycling muss auch zugänglich sein. Das liegt in der Hand von Industrie und Handel. Nötige Anreize erhoffen sich viele aus der Politik. Aber auch wir Konsument*innen können das Angebot über die Nachfrage steuern – zumindest in gewissem Maße.