Schon aus der frühen Geschichte sind umfangreiche Therapien überliefert, wie zum Beispiel das Eröffnen der Schädeldecke. Aus heutiger Sicht erscheint das bizarr, aber es stellt sich vor allem eine Frage: Woher konnten unsere Vorfahren das? Wie haben sie es gelernt? Einer musste als erster seinen Kopf hingehalten haben. Ohne das Experiment am Menschen ist medizinischer Fortschritt nicht zu haben. Bis heute. Im 3. Jahrhundert vor Christus wurden in Alexandria, der damaligen Hochburg der Wissenschaft, Sektionen an toten Verbrechern im großen Stil durchgeführt. Man geht heute davon aus, dass auch Vivisektionen – also Sektionen am lebendigen Leib - durchgeführt wurden, denn man war damals nach griechischem Vorbild der Überzeugung, dass relevantes medizinisches Wissen nur an Lebenden erforscht werden könne.
Der Henker als Anatom
Die Kirche lehnte im Mittelalter Sektionen an Toten ab und begründete dies mit dem Glauben an die Auferstehung des Fleisches. In jener Zeit sind es deshalb vor allem Henker, Wundärzte und Bader, die Kenntnis von der menschlichen Anatomie erlangen. Also auf dem Schlachtfeld, im Folterkeller oder bei chirurgischen Behandlungen. Ein dunkles Kapitel der Medizin, in dem altes Wissen in Vergessenheit gerät und viele falsche Vorstellungen entstehen. Erst Jahrhunderte später können viele dieser Fehler korrigiert werden. Zum Beispiel als William Harvey im 16. Jahrhundert durch zahlreiche Versuche an Tieren herausfindet, dass das Blut nicht im Körper versickert, sondern in zwei Kreisläufen rotiert. Seine Nachfolger griffen später diese Erkenntnis auf und entwickelten daraus die Idee, Blutverluste bei Menschen durch Schafsblut zu ersetzen. Ein Eingriff, der vielen Testpersonen das Leben kostete.
Der Anatom als Henker
Von Seiten der Ärzte versuchte man im 17. Jahrhundert auch die medizinische Forschung an lebenden Menschen zu legalisieren. Ihre Idee war es, Hinrichtungen abzuschaffen und die Verbrecher stattdessen der medizinischen Wissenschaft zuzuführen, um an ihnen neuartige Operationsmethoden oder Experimente mit Giften und Antidota auszuprobieren. Auch Pierre-Louis Moreau de Maupertuis, Präsident der Akademie der Wissenschaften in Berlin forderte dieses Vorgehen. Interessanterweise war an dieser Diskussion auch Joseph-Ignace Guillotin beteiligt, der sich ansonsten als Mitentwickler der Guillotine eher für humanere Hinrichtungsmethoden eingesetzt hatte.
Medizinische Forschung explodiert
Durch die ungeheure Forschungsaktivität im 19. Jahrhundert wurden Experimente an Mensch und Tier im großen Stil durchgeführt. In England gingen den Anatomen die Leichen aus, da für Sektionen nur die Hingerichteten in Frage kamen. Leichen für die wissenschaftliche Forschung wurden für den Medizinbetrieb so zur begehrten „Ware“. Die Grabräuberei auf Friedhöfen florierte und einige sehr geschäftstüchtige Räuber taten sich dadurch hervor, dass sie „besonders frische Leichen“ beschafften.
Experimente an Lebenden fanden damals oft in den öffentlichen Krankenhäusern statt, wo vor allem die Armen behandelt wurden. Man erwartete die Kooperation der Kranken als eine Art der Gegenleistung für die erwiesenen „Wohltaten“. Auch dass man seinen Körper zu Unterrichts- und Forschungszwecken nach dem Tode zu Sektionen hergab.

Das wahrscheinlich dunkelste Kapitel der Menschenexperimente wurde dann in deutschen Konzentrationslagern geschrieben. Die KZ-Ärzte führten an den Gefangenen grausame Tests mit Kälte, mit Druck, mit Krankheitserregern oder chemischen Substanzen durch. Oft bis der Tod eintrat. Pedantisch wurden die Ergebnisse protokolliert. In den Aufzeichnungen und Briefkorrespondenzen der Folterknechte bezeichnete man die Opfer als "Menschenmaterial". Die Experimente wurden meist für militärische Zwecke aber auch im Auftrag der Pharmaindustrie durchgeführt. Ab 1946 versuchte man im Nürnberger Ärzteprozess diese Gräueltaten aufzuarbeiten. Obwohl letztlich nur wenige Täter zur Rechenschaft gezogen wurden, so setzte man sich doch mit den ethischen Grundlagen für medizinische Forschung am Menschen auseinander. Die Ergebnisse wurden im sogenannten "Nürnberger Kodex" festgehalten, der ersten Sammlung ethischer Standards für medizinische Experimente an Menschen.
Menschenexperimente in den USA
Noch während diese abschreckenden Beispiele aus dem dritten Reich in Nürnberg verhandelt wurden, fanden in Alabama und Guatemala im Auftrag des Public Health Service der US-Regierung menschenverachtende Experimente an Schwarzen statt. Charles Cutler hatte die Leitung für zwei völlig sinnlose Forschungsprojekte übernommen. In Guatemala infizierte man 1.500 ahnungslose Schwarze mit Syphilis, um an ihnen die Wirkung von Penicillin zu studieren. Während man in Alabama 400 Schwarzen, die an Syphilis erkrankt waren, die rettenden Antibiotika versagte, um an Ihnen die Spätfolgen der Krankheit bis zum Tod zu untersuchen. Die Menschen, die aus armen Verhältnissen stammten und nur über wenig Schulbildung verfügten, wurden mit Almosen und falschen Versprechungen gefügig gemacht. Nach dem die Presse von den Experimenten erfuhr und darüber berichtete, stellte man sie Anfang der 1970er Jahre ein.
Contergan und seine Folgen
Bis zu der Erkenntnis, dass medizinische oder pseudomedizinische Forschung nicht in der Lage ist, sich selbst zu kontrollieren, waren allerdings weitere Skandale erforderlich: Erst nachdem die Firma Grünenthal 1957 das scheinbar unbedenkliche Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan rezeptfrei auf den Markt gebracht hatte und nach kurzer Zeit die verheerenden Folgen sichtbar wurden, setzte ein Umdenken ein. Bis dahin mussten in Deutschland von der Pharmaindustrie lediglich die Qualität der Herstellung und die Unbedenklichkeit neuer Medikamente nachgewiesen werden. Als direkte Reaktion auf den Contergan-Skandal wurde in Deutschland 1962 endlich ein strenges Zulassungsverfahren für neue Medikamente im Arzneimittelrecht eingeführt. Und international drängte man auf eine Festlegung von ethischen Rahmenbedingungen für Experimente an Menschen.
Deklaration von Helsinki
1964 ist es dann soweit – ein Meilenstein in der Medizingeschichte: Der Weltärztebund verabschiedet in Helsinki eine Deklaration, die zum ersten Mal die ethischen Grundsätze für medizinische Forschung am Menschen festlegt. Diese Standards werden später in vielen Ländern in rechtsgültige Gesetze überführt.
Die wichtigsten Eckpunkte, auf die man sich einigte:
• Der zu erwartende medizinische Nutzen klinischer Studien muss dessen Risiko überwiegen.
• Die Teilnahme an Experimenten muss freiwillig sein.
• Eine umfangreiche Aufklärung muss vorausgehen.
• Die Freiwilligen dürfen jederzeit die Experimente abbrechen.