Patienten-Wünsche sind Nebensache
Ihre Krebsbehandlung war kompliziert und sehr schmerzhaft. Dann waren Christl G.s Ärzte nicht einig: Chemo Ja oder Nein? Bestrahlung 25 oder 35 Mal? Die Chemo konnte sie verhindern. Die Bestrahlung nicht. "Das wurde mir so kommuniziert, als hätte ich keine Wahl", erinnert sich die 55Jährige.
Vor allem hatte Niemand der vierfachen Großmutter erzählt, ob die Bestrahlung wirklich Vorteile für sie bringt. Erst ihr Arzt in der Reha nannte einige Zahlen: "Es hieß dann, dass ich ohne Bestrahlung zu 70 Prozent rezidivfrei wäre, mit Bestrahlung zu 80 Prozent. Ganz ehrlich? Hätte ich das gewusst, hätte ich mit großer Wahrscheinlichkeit diese Bestrahlung nicht machen lassen. Das war einfach Folter pur und meine Kinder sind groß. Ich habe wirklich überhaupt gar keine Lust in den letzten Jahren zu leiden."
Christl G. hat damit erlebt, was viele Studien zeigen: Oft werden Therapien empfohlen, die gewinnbringend für die Klink sind. Wie hoch der Nutzen für Patienten ist und was diese eigentlich wollen, steht gar nicht zur Debatte.
Der Patient soll im Mittelpunkt stehen
Ina Kopp von der Arbeitsgemeinschaft medizinische Forschung will erreichen, dass Patienten mehr im Mittelpunkt stehen. Sie sollen besser aufgeklärt werden und keine nutzlosen Behandlungen von ihren Ärzten bekommen. "Gemeinsam klug entscheiden" heißt die Initiative, für die sie im Einsatz ist. Inspiriert ist diese Aktion von der US-Kampagne "Choosing wisely", die dazu anregt, fünf unnötige Diagnose- und Therapieverfahren für jeden Facharzt einfach zu streichen.

"Ein sehr schönes Beispiel sind die Herzkatheter-Untersuchungen in Deutschland. Nach OECD Daten ist Deutschland darin Weltmeister. Doch wann sind sie wirklich indiziert? Oder wann ist es besser darauf zu verzichten?"
Außerdem ist es Ziel der Kampagne, dass Patienten an Entscheidungen zu Diagnose- und Therapieverfahren mehr beteiligt werden. Doch die meisten Ärzte haben gar keine Zeit für eine bessere Aufklärung. Wie soll die Information dann an die Patienten kommen? Dazu Prof. Kopp: "Das kann passieren durch kleine Broschüren, die im Wartezimmer ausliegen. Das kann passieren durch Dateien, die im Internet zur Verfügung gestellt werden. Das kann vielleicht auch passieren durch gezielte Publikationen in der normalen Presse."
Ingrid Mühlhauser ist Vorsitzende des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin. Somit ist sie Verfechterin von medizinischen Maßnahmen, die handfeste wissenschaftliche Nachweise zu ihrer Wirksamkeit vorweisen können. Sie steht der Initiative "Gemeinsam klug entscheiden" kritisch gegenüber: "Ich glaube, dass jetzt sehr viel Energie in diese Kampagne gesteckt wird. Doch ich bin nicht überzeugt, dass es einen positiven Effekt haben wird. Wir sollten uns gemeinsam viel mehr darum bemühen, dass die Evidenz basierte Medizin umgesetzt wird. Dann brauchen wir solche Kampagnen nicht." Vor allem aber kritisiert Prof. Mühlhauser, dass Patienten über ausgelegtes Material, per Internet und über Broschüren - sogenannte Patienten Leitlinien - informiert werden sollen: "Es gibt viele der Empfehlungen in den medizinischen Leitlinien, die auf einer schlechten wissenschaftlichen Beweisbasis beruhen. Zudem müssen Pateinten immer die Möglichkeit haben, Behandlungen abzulehnen, auch wenn diese in den Leitlinien empfohlen werden." Dafür müsste laut Mühlhauser auch ganz anders kommuniziert werden als bisher: "Die Ärzte müssten Zahlen nennen und den Patienten eine Wahl lassen. So in die Richtung ‚Wenn jetzt 100 Leute mit ihrer Krankheit diese Therapie nicht machen, dann sterben in den nächsten zwei Jahren so und so viele weniger. Wenn Sie diese andere Option wählen, dann sterben von 100 Leuten so und so viele weniger. So muss kommuniziert werden."
Die Initiative ist ganz am Anfang
Noch ist die Initiative "Gemeinsam klug entscheiden" ganz am Anfang. Die Umsetzung wird viele Jahre brauchen und zahlreiche Arbeitsstunden kosten.
In den USA gibt es Choosing Wisely schon seit vier Jahren. Eine aktuelle Untersuchung dazu bestätigt der Aktion nur mäßigen Erfolg. Doch Ina Kopp ist zuversichtlich. Hinter ihr stehen 133 Fachgesellschaften, die zugesagt haben, "Gemeinsam klug entscheiden" mit voran zu treiben und umzusetzen. Fakt ist, dass in Deutschland zu viel therapiert wird. Und Patienten brauchen mehr Schutz und Unterstützung.
Christl G. kann sich an ihre Aufklärung jedenfalls kaum noch erinnern. Kein Wunder: Sie war mit Morphium vollgepumpt. "Ich glaube, dass das gar nicht berücksichtigt wird, inwieweit man noch aufnahmefähig ist für manche Sachen. Hauptsache, die Unterschrift ist auf dem Zettel." Sie wäre gern sicherer gewesen, dass ihre Ärzte sie ausschließlich zu ihrem Wohl beraten. Ob die Initiative "Gemeinsam klug entscheiden" Patienten dabei in Zukunft weiter hilft, wird sich zeigen.