Bei einem Knochenbruch, Herzinfarkt oder Schlaganfall gibt es klar definierte Handlungsabläufe für das Rettungspersonal. Anders ist das bei psychiatrischen Notfällen, hier haben die behandelnden Rettungskräfte einen größeren individuellen Spielraum.
„Solche [psychiatrischen] Notfälle treten häufig vielseitiger in Erscheinung als bei somatischen Krankheitsbildern und sie zeigen oft eine unberechenbare Entwicklung. Teilweise sind sie sogar mit einer erheblichen Gefährdung für das versorgende Personal und die Betroffenen selbst verbunden“, erklärt Prof. Carlos Schönfeldt-Lecuona, stellvertretender leitender Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III des Universitätsklinikums Ulm.
Notärztinnen verabreichen bei psychiatrischen Notfällen seltener Medikamente
Die Universität Ulm hat nun in einer Studie untersucht, ob Notärztinnen und Notärzte diesen individuellen Spielraum unterschiedlich nutzen. Das Ergebnis: Es gibt einen Gender-Effekt.
Frauen entscheiden sich häufiger gegen das Spritzen von Beruhigungsmitteln. Um die Situation nicht weiter anzuheizen, verzichten sie auch öfters auf das Messen von Puls und Blutdruck. Denn die Messung der Vitalwerte wird von manchen Patientinnen und Patienten als übergriffig empfunden.
Im Rahmen der Studie wurden rund 3000 Protokolle von Notarzteinsätzen mit psychiatrischem Hintergrund ausgewertet – Alkohol- und Drogenmissbrauch genauso wie psychische Ausnahmesituationen oder Panikstörungen. Etwa eine halbe Million Patienten pro Jahr müssen deswegen zur Behandlung in eine Klinik.
Derartige Einsätze machen etwa ein Drittel der Notfälle aus, bei denen ein Notarzt hinzugerufen wird, sagt Dr. Benedikt Schick, Oberarzt für Anästhesie an der Uniklinik Ulm und Erstautor der Studie: "Psychiatrische Notfälle sind Patientinnen und Patienten, die sich in einer Akutsituation befinden und bei denen Hilfe durch die Patienten selbst oder häufiger durch Dritte angefordert wird."

Notärztinnen setzen auf patientenzentrierte Kommunikation
Im Rahmen der Untersuchungen haben männliche Notärzte im Vergleich zu ihren weiblichen Kolleginnen nicht nur doppelt so oft Medikamente eingesetzt, sondern auch häufiger die Polizei gerufen, wenn Patienten nicht mitkommen wollten.
Professor Eberhard Barth ist Oberarzt an der Uniklinik Ulm, auch er ist als Anästhesist regelmäßig als Notarzt im Einsatz: "Ich glaube schon, dass die männlichen Kollegen manchmal einfach direktiver versuchen vorzugehen, was aber gerade im notärztlichen Bereich bei psychiatrischen Notfällen kontraproduktiv ist."
Denn eine Behandlung kann auch ohne Polizei und ohne Psychopharmaka möglich sein, wie Notärztin Daniela Burgert erklärt: "Psychiatrische Patienten sind oft oftmals laut, auch renitent. Investiert man am Anfang ein bisschen Zeit und holt den Patienten so ab, dann spart man sich viel, viel Zeit, weil der Patient dann auch freiwillig mitkommt."

Aus anderen Bereichen der Medizin, ist bereits bekannt, dass Frauen durch eine patientenzentrierte Kommunikation eine bessere Gesprächsatmosphäre schaffen können, erklärt Benedikt Schick. Dadurch könnten sich Patientinnen und Patienten besser mitteilen und ihre Wünsche und Bedürfnisse besser formulieren. Das ist bei psychiatrischen Notfällen offenbar genauso hilfreich wie Medizin.
Ausbildung muss verbessert werden
Ein grundsätzliches Problem liegt in der Ausbildung, denn dort werden diese Fälle nur nebensächlich behandelt. So sieht Benedikt Schick bereits im Studium Verbesserungs-Potenzial, damit psychiatrische Notfälle künftig als genauso wichtig betrachtet werden wie beispielsweise die Behandlung von Herzinfarkten.
Männer setzen bei Notfällen bisher eher auf die Praxis: “Wir Männer wollen halt vielleicht doch eher zeigen, dass wir unter schwierigsten Bedingungen ganz tolle Sachen machen können.”
Um Aus- und Fortbildung zu verbessern werden in Ulm für das Training extra Schauspielpatienten eingesetzt – bundesweit gesehen eine Ausnahme.
Kein Gender-Effekt bei Zwangseinweisungen
Ob Patientinnen und Patienten gegen ihren Willen in ein Krankenhaus gebracht wurden, war aber nicht davon abhängig, ob sie von einer Ärztin oder einem Arzt behandelt wurden. Jedoch griffen Notärzte auch hier häufiger zur Beruhigungsspritze.
Die Einweisung in ein Krankenhaus gegen den Patientenwillen, in Kombination mit der erzwungenen Verabreichung von Psychopharmaka zur Beruhigung ist für den Betroffenen als “maximale Eskalation” zu sehen und verursacht massiven Stress, erläutert Benedikt Schick.

Belastetes Verhältnis zwischen Psychiater und Patient
Daher wirft die Ulmer Studie auch weitere Fragen auf, die noch nicht untersucht wurden. Zum Beispiel, ob die Anwendung von Zwang anschließend das Vertrauensverhältnis zwischen Psychiater und Patienten beschädigt. Denn von dem hängt schließlich der Erfolg einer Behandlung ab.
Benedikt Schick hat schon erste Ergebnisse, die die Arbeit in der Notfallmedizin verändern könnten: "Das kann schon nur der verbale Druck sein, die ungewollte Medikamentengabe oder die physische Gewalt – dann verschlechtert sich maßgeblich die Arzt-Patienten-Beziehung."
Nicht nur deswegen setzt die Ulmer Notärztin Daniela Burgert weiter bevorzugt auf ein gutes Verhältnis zu ihren Patienten: "Ich versuche es oft ohne Medikamente zu schaffen. Das ist mein großes Ziel. Und meistens schaffe ich das auch."