Pandemie

Streit in der Wissenschaft: No-Covid gegen Pragmatismus

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Anja Braun
Anja Braun, Reporterin und Redakteurin SWR Wissen aktuell. (Foto: SWR, Christian Koch)
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Christian Burg

Wie tief sollte die Inzidenzzahl gedrückt werden um Lockerungen der Kontaktbeschränkungen und Öffnungen zuzulassen? Bundeskanzlerin Merkel und die Ministerpräsidenten haben einen Mittelweg zwischen No Covid und Pragmatismus gewählt.

Nach dem Treffen von Bundeskanzlerin Merkel mit den Ministerpräsidenten wurde als neue Inzidenz für mögliche Öffnungen oder Lockerungen statt 50 Neuinfektionen nun 35 pro 100.000 Einwohner:innen festgelegt. Hintergrund ist die Furcht, die Virusvarianten aus Großbritannien und Südafrika könnten bei uns stärker Fuß fassen, da sie als deutlich ansteckender gelten als das Ursprungsvirus. Bundeskanzlerin Merkel begründete, dass die Absenkung der Inzidenzzahl nötig sei, um eine dritte Welle zu verhindern. Damit haben die Politiker einen Mittelweg gewählt, denn zurzeit teilt sich die wissenschaftliche Meinung in Deutschland in zwei Richtungen. 

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Lockerungen erst ab 10 Infizierten pro 100.000 Einwohner

Die Geister scheiden sich an der Zielvorstellung, wie tief die Inzidenzzahl gedrückt werden muss, bevor es zu Lockerungen der Kontaktbeschränkungen für die Bevölkerung kommen kann. Auf der einen Seite steht die Initiative No Covid. Mitte Dezember letzten Jahres hatten 300 renommierte Wissenschaftler in der Fachzeitschrift „The Lancet“ einen Aufruf veröffentlicht und als Lockdown-Ziel eine Inzidenz von zehn pro 100.000 gefordert. Außerdem verlangte die Gruppe eine EU-weite Abstimmung der Lockdowns. Zu den Unterzeichner:innen des Appells zählten aus Deutschland Melanie Brinkmann und Viola Priesemann, Charité-Virologe Christian Drosten und der Chef des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler.

Konzepte aus Australien und Neuseeland als Vorbild

Im Februar hat sich daraus eine kleinere Gruppe von 14 Wissenschaftler:innen gebildet, die mit Blick auf funktionierende Konzepte in Australien und Neuseeland weitergehende Strategien entwickelt haben. Sie fordern, dass Lockerungen nach einem harten Lockdown regional und lokal erfolgen sollten. In sogenannten grünen Zonen mit Inzidenzen von unter 10 sollten die Beschränkungen weitgehend aufgehoben werden. Von roten Zonen mit höheren Inzidenzen dürfe aber keiner ohne triftigen Grund in die grünen Zonen einreisen. In der Folge würden immer mehr Zonen grün, bis schließlich das ganze Land wieder unter einer Inzidenz von 10 sei. Der Weg dahin sei allerdings ein strenger Lockdown.

Älterer Mann mit FFP2-Maske (Foto: IMAGO, IMAGO / Sven Simon)
Die Wissenschaftler:innen-Gruppe um No Covid argumentiert, dass nur durch einen harten Lockdown Risikogruppen geschützt werden können.

Nach Argumenten der Wissenschaftler:innen-Gruppe ist es nicht möglich, „vulnerable Gruppen“ anders zu schützen. In Deutschland zählten 40 Prozent zu den Alten und Vorerkrankten. Der europaweite, harte Lockdown über eine begrenzte Zeit sei auch deshalb sinnvoll, um nicht in den Jojo-Effekt zwischen Lockerungen und Verschärfungen zu kommen. 

Virologe Klaus Stör schlägt Stufenplan vor

Gegner halten die "No Covid" Idee für zu theoretisch. Sie könne in Australien und Neuseeland nur funktionieren, weil diese Inseln aufgrund ihrer isolierten Lage eine strikte Kontrolle der Einreisen organisieren könnten. Das sieht auch der Epidemiologe und Virologe Klaus Stöhr so. Er leitete das Global-Influenza-Programm der WHO und  hält Inzidenzwerte unter 50 im Winter für illusorisch. Das liege auch an der hohen Bevölkerungsempfänglichkeit für Atemwegsinfektionen im Winter.

Intensivbett im Uniklinik Dresden (Foto: IMAGO, IMAGO / Max Stein)
Trotz der hohen Infektionszahlen in den letzten Monaten sei das Gesundheitssystem nicht überlastet und nur stellenweise sehr hoch belastet worden, so Virologe Klaus Stöhr.

Stöhr sagte in den Tagesthemen, der Blick auf das Gesundheitssystem in den letzten ein bis zwei Monaten habe gezeigt, dass es auch um die 130-160 Fälle pro 100.000 Einwohner  noch funktioniere. Trotz der hohen Infektionszahlen sei das Gesundheitssystem nicht überlastet und nur stellenweise sehr hoch belastet worden. Auch das sei ein Grund, die Hürde der Infektionszahlen für Lockerungen etwas niedriger zu setzen. Eine neunköpfige Autorengruppe aus Wissenschaft, Pflege und Medizin stützt die Position des Virologen Stöhr. Sie hatte kürzlich ein Positionspapier veröffentlicht, das eine Art elastischen Stufenplan vorsieht, der alle 3 bis 4 Wochen neu angepasst werden kann. Die 7-Tage-Inzidenz der Neuinfektionen soll dabei nur ein Kriterium für die Bewertung sein. Dazu sollten die Entwicklung der Reproduktionszahl R, die Inzidenzen nach Risikogruppen, die Belastung des Gesundheitssystems, die Belegung von Intensivstationen und die Sterbefälle berücksichtigt werden.

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Anja Braun, Reporterin und Redakteurin SWR Wissen aktuell. (Foto: SWR, Christian Koch)
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