Fünf Schüler der Gesamtschule Wulfen sitzen vor ihren Bildschirmen und lösen dort mathematische Aufgaben. Doch statt klassischen Rechenaufgaben zeigt der Bildschirm Zahlenstrahlen, Raster oder Rechenschieber.
Denn das System, das hier von den Kindern getestet wird, bewertet die Aufgaben nicht nach richtig oder falsch, sondern es analysiert die Augenbewegungen. Dafür verfolgt die Webcam die Augenbewegungen, was auch als Eyetracking bekannt ist.
Wenn ein Schüler eine Stelle der Aufgabe besonders lange oder häufig betrachtet, weiß das Programm, dass diese Stelle besonders schwer zu verstehen war. Und das System unterscheidet nicht nur zwischen einfach und schwierig, es analysiert auch die Vorgehensweise, mit der ein Schüler zu seinem Ergebnis kommt.
Häufig mangelt es an den Grundlagen
Das System mit dem Namen KI-ALF ist für den Einsatz in der fünften Klasse konzipiert. Denn hier kommen Schüler aus verschiedenen Grundschulen und mit verschiedenen mathematischen Grundkenntnissen zusammen.
Die Lehrkräfte müssen hier alle Kinder auf einen Stand bringen. Denn wenn die Grundkenntnisse nicht sitzen, haben die Schüler häufig bis zu ihrer Berufsausbildung Probleme in Mathematik.

Maike Schindler ist Universitätsprofessorin an der Universität zu Köln und forscht dort zu mathematischen Lernprozessen. Sie hat in Zusammenarbeit mit Achim Lilienthal, Professor für intelligente Systeme an der TU München, das System KI-ALF entwickelt und erklärt das Problem:
„Die Schüler müssen die Zahlen nicht nur kennen, sie müssen eine Vorstellung von Zahlen entwickeln und verstehen, welche Handlungen sich hinter den Rechenoperationen verbergen. Das bedeutet zum Beispiel, dass die 82 nicht nur die Zahl zwischen der 81 und 83 ist. Ein Kind mit guten mathematischen Vorstellungen weiß außerdem, dass die 82 aus acht Zehnern und zwei Einern besteht.“

Schüler und Lehrkräfte profitieren
KI-ALF wird bereits an der Gesamtschule Wulfen in der Praxis getestet. Das Team um Maike Schindler machte dabei auch überraschende Entdeckungen:
„Zunächst waren wir uns nicht sicher, wie die Schüler auf das System reagieren werden. Schließlich werden immer fünf Schüler in einem gesonderten Raum gefördert. Aber die Kinder sind im Klassenraum auch häufig einem großen Druck ausgesetzt, wenn die Mitschüler deutlich schneller fertig sind. Bei KI-ALF kann jedes Kind in seinem eigenen Tempo lernen.“

Für die Lehrkräfte bedeutet die Arbeit mit KI-ALF eine deutliche Arbeitserleichterung: In Wulfen können jetzt immer fünf Kinder gleichzeitig von einer Lehrkraft individuell gefördert werden.
Vorher war eine solche Förderung nur in einer eins-zu-eins-Betreuung möglich. KI-ALF analysiert nämlich nicht nur das Problem, es wählt auch passende Erklärungen und Übungen aus, die vorher von den Wissenschaftlern in das System eingespielt wurden.
Die Lehrkräfte erhalten einen Bericht dazu, welche Probleme ein Kind hatte und welche Förderung es absolviert hat. Das spare zusätzliche Ressourcen bei den Lehrkräften, sagt Projektleiterin Maike Schindler:
„In Zeiten eines Lehrkräftemangels ist ein solches KI- basiertes System natürlich eine große Unterstützung. Die Lehrkräfte können ganz gezielt bei den Fällen einspringen, die über das System hinaus eine individuellere Förderung benötigen. Das System übernimmt auch die Dokumentationsarbeit, sodass die Lehrkräfte ihre Ressourcen noch besser für ihre Schüler nutzen können.“
In einer noch unveröffentlichten Pilotstudie mit 20 Fünftklässlern konnten die Wissenschaftler beobachten, dass die Schüler sich in knapp 90 Prozent der Fälle verbessert haben.
Künstliche Intelligenz als zukünftige Bildungstechnologie
An der Universität zu Köln werden bereits weitere Technologien auf der Basis künstlicher Intelligenz entwickelt. Aktuell erproben die Forschenden zum Beispiel eine App, die gezielt Erstklässler unterstützt und beispielsweise auch für gehörlose oder schwerhörige Kinder geeignet ist.
Maike Schindler sieht großes Potenzial im Einsatz künstlicher Intelligenz: „Wir verstehen unser System als Plattform, die thematisch und inhaltlich fast beliebig ausgebaut werden kann. Beispielsweise für andere mathematische Inhalte, für andere Altersstufen oder auch für berufliche Ausbildungen. Wir denken, dass es unheimlich viele Anwendungsfelder gibt, in denen unser Webcam-basiertes Fördersystem sehr hilfreich sein könnte.“