Im Interview mit dem SWR berichtet Astronaut Matthias Maurer darüber, wie er den Ausbruch des Ukraine-Krieges an Bord der ISS erlebt hat. (Foto: SWR, SWR Wissen)

Astronaut Maurer berichtet

Das geschah zu Kriegsbeginn auf der ISS

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Uwe Gradwohl
Uwe Gradwohl, Leiter der Redaktion SWR Wissen Aktuell. (Foto: SWR, Christian Koch)

SWR Wissen hat mit Matthias Maurer ausführlich darüber sprechen können, was auf der ISS geschah, als Russland die Ukraine überfiel.

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Der Satellitenabschuss vor dem Krieg

November 2021. Drei Monate vor Kriegsbeginn in der Ukraine: Die Besatzung an Bord der ISS wird zur Sicherheit in die angedockten Raumschiffe geschickt. Umherfliegende Trümmer gefährden die Raumstation. Sie sollen von einem zufällig zerbrochenen russischen Satelliten stammen. So erfährt es Matthias Maurer von der Bodenkontrolle in Houston. Aber diese Erklärung stellt sich etwas später als falsch heraus.

Dass die umherrasenden Trümmer, die die ISS gefährden, entstanden sind, als Russlands Militär einen eigenen Satelliten demonstrativ abschoss – darüber informiert Houston die ISS nicht. Sei es, weil es der Bodenkontrolle unwichtig erscheint oder weil sie diese Information bewusst nicht an die Wohngemeinschaft im All geben will.

Dass ein Satellit auseinanderbricht kann vorkommen, wenn in älteren Satelliten noch Treibstoffreste im Tank sind, so Maurer. Das komme zum Glück bei modernen Satelliten nicht mehr vor, ergänzt er. Dass dieser Satellit nach Beschuss durch Russlands Militär in tausende Stücke zerbrach – diese Wahrheit erfährt Maurer erst als er die BBC-Nachrichten im Internet liest.

"Das war für uns zunächst eine glaubwürdige Sache, dass ein Satellit auseinandergebrochen ist. Erst später zwei, drei Tage später, haben wir dann über die Nachrichten erfahren, dass der Satellit abgeschossen wurde.“

Der Astronaut Matthias Maurer war zu Beginn des Ukraine-Krieges zusammen mit zwei russischen Kosmonauten an Bord der ISS. (Foto: IMAGO, IMAGO/ZUMA Wire/NASA)
Der Astronaut Matthias Maurer war zu Beginn des Ukraine-Krieges zusammen mit zwei russischen Kosmonauten an Bord der ISS.

"Der mit Abstand traurigste Tag oben im All"

Am 24. Februar 2022 beginnt dann der Krieg, russische Truppen fallen in die Ukraine ein. Für Matthias Maurer ist das ein tiefer Einschnitt, seine Stimmung sei auf einem Tiefpunkt gewesen, erzählt er:

"Das war eine ganz entsetzliche Vorstellung, dass da unten mitten in Europa ein Krieg ausgebrochen ist. Wir oben im All. Wir leben in so einer heilen Welt, in so einer idealen Welt."

Der Krieg in der Ukraine war auch vom Weltall aus zu erkennen. Zunächst bei den Überflügen der ISS in der Nacht. Auch in der Nacht des 24. Februar war Europa hell beleuchtet, und dann flog die ISS plötzlich über einen dunklen Fleck mitten in Europa, berichtet Maurer, "das war so auffällig, das hat uns so tief getroffen, das zu sehen“.

Astronaut Matthias Maurer kehrt von der ISS zurück zur Erde. (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance/dpa/ESA/NASA )
Aus dem kuppelförmigen Beobachtungsturm der ISS, der Cupola, kann die Besatzung rund 400 km hinab auf die Erdoberfläche blicken.

Wie darüber ins Gespräch kommen?

Über 22 Jahre lang hatten West und Ost durch die Zusammenarbeit auf der ISS Vertrauen aufgebaut. Aber nun überlegt Maurer, ob und wie er die russischen Kollegen auf den Kriegsausbruch ansprechen kann. Mit Anton Schkaplerow gelingt ihm das. Die Familie des russischen Astronauten lebt auf der Krim. „Es war für mich ganz einfach, als Einstieg zu fragen: Wie geht es deiner Familie? Ist die betroffen oder ist die in Gefahr?", so Maurer, aus dem Gespräch wird klar: Sein Kosmonautenkollege ist komplett gegen den Krieg.

Maurer bemerkt aber, dass Schkaplerow der russischen Propaganda glaubt, der zufolge in der Ukraine Terroristen bekämpft werden müssten. Erst Tage später verstehen der Russe und sein Landsmann Dubrow, dass es sich um einen russischen Angriffskrieg handelt. Beide distanzieren sich davon.

An Bord der ISS befanden sich auch zwei russische Kosmonauten. Der russische Kosmonaut Anton Schkaplerow kehrt nach 176 Tagen im Weltraum am 30. März 2022 zurück. (Foto: IMAGO, imago/Copyright: Bill Ingalls/Nasa)
An Bord der ISS befanden sich auch zwei russische Kosmonauten. Der russische Kosmonaut Anton Schkaplerow kehrt nach 176 Tagen im Weltraum am 30. März 2022 zurück.

Keine Friedensbotschaft von der ISS

Im amerikanischen Teil der Raumstation, in dem auch Maurer untergebracht ist, beginnt nach Kriegsausbruch die Diskussion, ob man nicht von der ISS aus eine Friedensbotschaft formulieren sollte. Maurer bespricht sich mit seinem US-amerikanischen Kollegen Mark Van der Hei: "Mark hat gesagt, 'Ich möchte aber was sagen, ich muss das jetzt unten klarstellen.'" Die Bodenkontrolle in Houston schreitet ein:

„Uns wurde gesagt: Jungs! Alles, was ihr hier oben sagt, das ist gut gemeint, aber es wird gegen euch verwendet werden. Da werden Sequenzen rausgeschnitten. Eure Worte werden in anderen Zusammenhang gebracht und das Ganze wird noch mal Öl ins Feuer gießen.“

Russische Besatzung muss Ukraine-Farben verdecken

Als wenige Wochen nach Kriegsbeginn eine neue russische Crew auf der ISS ankommt, tragen die Kosmonauten bei ihrer Ankunft gelbe Overalls mit blauen Aufnähern. Ein Zeichen der Solidarität mit der Ukraine, vermutet ein großer Teil der westlichen Presse. Das stellt sich zwar schnell als falsch heraus, aber die russischen Kosmonauten schweben fortan in dicken Jacken durch die ISS.

Matthias Maurer ist verwundert, spricht seinen Kollegen auf die unnötig dicke Jacke an. Der russische Kollege entgegnet, sie hätten nur gelbe Pullover, dürften diese aber nicht mehr tragen. Das sei eine Anweisung von der Bodenkontrolle aus Moskau. „Und dann – klar – habe ich ihm meinen blauen Pulli geschenkt, sodass er dann nicht mit der Jacke ständig durch die Station fliegen musste“, erzählt Maurer.

Im Interview mit dem SWR berichtet Astronaut Matthias Maurer darüber, wie er den Ausbruch des Ukraine-Krieges an Bord der ISS erlebt hat. (Foto: SWR, SWR Wissen)
Im Interview mit dem SWR berichtet Astronaut Matthias Maurer darüber, wie er den Ausbruch des Ukraine-Krieges an Bord der ISS erlebt hat.

Musik für den Zusammenhalt

Auch die Sanktionen machen den Russen an Bord der ISS Probleme: Die Kosmonauten können mit ihren russischen Kreditkarten keine westlichen Internet-Musikstreams mehr abonnieren. Maurer ignoriert kurzerhand die Nutzungsbedingungen und lässt die Russen einfach über seinen Account ihre Lieblingsmusik bestellen. Denn er weiß: Musik ist wichtig für das Wohlbefinden auf der ISS und das Wohlbefinden für den Zusammenhalt auf der Raumstation, die als Friedensprojekt über den Kriegsgebieten der Erde kreist.

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