Human Cell Atlas

Ein Nachschlagewerk für den menschlichen Körper

Stand

Von Autor/in Veronika Simon

Ein menschlicher Zellatlas soll durch internationale Zusammenarbeit entstehen - ein Nachschlagewerk für den menschlichen Körper. In der Pandemie war das bereits nützlich. 

Woraus besteht der menschliche Körper? Welche Zelltypen gibt es – und wie sind diese genau aufgebaut? Wie verändern sich kranke Zellen? Es sind große Fragen, die das internationale Forschungskonsortium des „Human Cell Atlas“ beantworten will. Forschende aus der ganzen Welt tragen dafür ihre Daten zusammen.  

"Dabei geht es natürlich auch um Grundlagenforschung“, sagt Sarah Teichmann. Sie ist Professorin in der Clinical School der Cambridge University. Gemeinsam mit der israelisch-amerikanischen Bioinformatikerin Aviv Regev starteten sie 2016 das riesige Projekt. "Wir wollen etwas über uns lernen und unseren Körper besser verstehen.“, so Teichmann. "Aber gleichzeitig gibt es etliche Anwendungen auf alle möglichen biomedizinischen Fragestellungen“. 

 

Wertvolle Informationen in der Pandemie 

Ein Beispiel: Während der Pandemie 2020 wurden die gesammelten Informationen des Human Cell Atlas schon ganz praktisch genutzt. Als sich das Coronavirus ausbreitete, konnte mit den Zelldaten schnell gezeigt werden, wo das Virus in den Körper eintreten kann.  

"Die Informationen, dass das Virus zum Beispiel über die Mundschleimhäute oder die Augen in den Körper kommt, wurde von den Komitees und Gremien, die für die Schutzmaßnahmen zuständig waren, bereits im Frühjahr 2020 aufgenommen“, erklärt Sarah Teichmann. "Und das war dann sofort wichtig für den Einsatz von zum Beispiel Masken oder Schutzbrillen".

Auch bei vielen weiteren medizinischen Fragestellungen sollen die gesammelten Daten über die menschlichen Zellen als Referenz genutzt werden können: "Wenn sich ein Gewebe verändert, zum Beispiel durch Krebs oder neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer, dann können wir den Zellatlas als Vergleich heranziehen und sehen, wo die relevanten Unterschiede liegen zwischen einer gesunden und einer kranken Zelle.“, so Teichmann. Solche Informationen könnten zum Beispiel genutzt werden, um passende Medikamente zu finden. 

Forschende des Human Cell Atlas Projekts bei einem ersten Treffen, um sich über das Nachschlagewerk zu beraten
Bei der Gründungskonferenz des Human Cell Atlas Projekts im Jahr 2016 trafen sich etwa 100 Forschende – der Startpunkt für ein heute globales Forschungskonsortium.

Forschende von allen Kontinenten arbeiten zusammen am Atlas

Der Startschuss für das Projekt fiel 2016 bei einer kleinen Konferenz mit etwa 100 Forschenden. Mittlerweile besteht das Forschungskonsortium aus fast 4.000 Menschen aus über 100 Ländern – Forschende von allen Kontinenten sind beteiligt. Anders wäre ein solches Projekt auch nicht möglich, erklärt Sarah Teichmann: "Die Aufgabe wäre viel zu groß für einzelne Labore oder Institute.“ So teilt jeder die Erkenntnisse aus seinem Fachbereich. 

Mit dabei ist auch Lucas Schirmer von der Universitätsmedizin Mannheim. Er ist Professor für Translationale Neurobiologie an der Universität Heidelberg und untersucht mit seinem Team, wie unterschiedlich einzelne Zelltypen in den Regionen des Gehirns und der Muskulatur sind.

"Die Daten, die wir erhoben haben, wurden konsequent in den Human Cell Atlas überführt.“, so der Neurologe. Er erforscht zum Beispiel den Unterschied zwischen entzündeten und gesunden Nerven- und Muskelzellen. "Der Human Cell Atlas des Gehirns, an dem wir mitgearbeitet haben, dient dabei als Vergleichswert für gesunde Zellen.“  

Forschende am Human Cell Atlas Projekt aus über 100 Ländern, bei einer großen Konferenz zum Nachschlagewerk.
Das Human Cell Atlas Forschungskonsortium umfasst heute fast 4000 Wissenschaftler aus über 100 Ländern, die gemeinsam an diesem weltweiten Großprojekt arbeiten.

Modernste Technologien erlauben genaue Analysen des menschlichen Körpers

Dass ein solcher Atlas überhaupt durchführbar ist, liegt an neuen Technologien: In den letzten 15 Jahren wurde es möglich, einzelne Zellen genetisch zu analysieren. Und man kann nicht nur herausfinden, welche Gene aktiv sind – sondern auch wo in einem dreidimensionalen Gewebe.   

Die gesammelten Datenmengen der Zellen sind wertvoll – aber auch eine Herausforderung, sagt der Bioinformatiker Oliver Stegle. Er ist kommissarischer Leiter des AI Centers am European Molecular Biology Lab und Abteilungsleiter am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg und arbeitet am Human Cell Atlas mit. "Wir entwickeln Strategien um die Daten der Wissenschafts-Community der ganzen Welt zusammenzubringen”. An sich seien die Daten zwar vergleichbar: Alle Gruppen sequenziellen menschliche Zellen. "Im Detail unterscheiden sich die Daten dann aber sehr stark.

 

Gehirnzellenaktivität einer jugendlichen und einer erwachsenen Person, wie sie im Nachschlagewerk des Human Cell Atlas dokumentiert wird.
Neue Technologien ermöglichen die genetische Analyse einzelner Zellen und ihre räumliche Lokalisierung im Gewebe - dabei müssen Forschende stets zwischen Detailgrad und Menge der untersuchten Zellen abwägen.

Technologie verändert sich ständig 

Außerdem habe sich die Technologie immer wieder komplett geändert. "Wir generieren heute ganz andere Daten wie vor einem Jahr.” Oliver Stegle erforscht mit seiner Arbeitsgruppe unter anderem die Frage, wie man die Unterschiede von Zelltypen definieren kann – wann gehören zwei Zellen zur gleichen Gruppe, wann gibt es biologische relevante Unterschiede?

Von Anfang an diskutierte er mit, wie ein solcher menschlicher Zellatlas sinnvollerweise aufgebaut sein muss. Denn die Daten, die in einem solchen Zellatlas gesammelt werden können, seien per Definition lückenhaft. "Wir können gar nicht jede Zelle bis in den letzten Winkel auflösen. Wir müssen dauernd Entscheidungen treffen: Wollen wir zum Beispiel lieber Daten von 1.000 Zellen von einem Zelltyp mit einem sehr hohem Detailgrad oder 10 Millionen Zellen mit einem geringerem Detailgrad messen?“ Man müsse immer wieder überlegen, wie man die Versuche aufbauen kann, um aus den Daten einen echten Gewinn zu ziehen.

 

Ein Mann zieht sich eine FFP2 Maske auf. Das Nachschlagewerk des Human Cell Atlas war während der Pandemie bereits im praktischen Einsatz.
Der Human Cell Atlas ermöglicht Forschenden wie Lucas Schirmer von der Universitätsmedizin Mannheim den Online-Zugriff auf eine umfangreiche Zelldatenbank. Deren praktische Bedeutung zeigte sich bereits während der Corona-Pandemie 2020, als die Datenbank half, die Eintrittswege des Virus in den Körper zu identifizieren und entsprechende Schutzmaßnahmen zu entwickeln.

Riesige Datenmengen für Analysen mit KI 

Hinzu kommt: Die Art der Datenverarbeitung, zum Beispiel mit Künstlicher Intelligenz, ändert sich aktuell rasant. Jetzt, da der Atlas immer mehr Gestalt annimmt, wird es für die Datenanalysten also noch einmal richtig interessant.  

Lucas Schirmer von der Universitätsmedizin Mannheim nutzt den Human Cell Atlas schon heute - für seine Forschung an gesunden und kranken Nerven- und Muskelzellen. Er kann online auf die bereits gesammelten Daten zugreifen:

„Das ist der große Vorteil von so einer riesigen, aggregierten Sammlung: Man kann nicht nur mit seinen eigenen Daten arbeiten, sondern kann Datensätze von verschiedenen Gruppen, die dort ihre Daten eingespeist haben, integrieren.” Das ermögliche bessere statistische Auswertungen – und bessere Analysen mithilfe von künstlicher Intelligenz.

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Der Neurologe aus Mannheim hofft, dass man in Zukunft mit Hilfe der Zellatlanten zum Beispiel neue Biomarker finden könnte, die auf bestimmte Erkrankungen und deren Verläufe hinweisen. So könnten bessere und vor allem spezifischere Therapien entwickelt werden. 

Für den Bioinformatiker Stegle aus Heidelberg ist die Vision, alle menschlichen Zellen zu sequenzieren immer noch faszinierend: „Für jemanden, der wie ich datengetrieben arbeitet, der sich für große Datensätze interessiert, ist das natürlich ein Traum von einer Möglichkeit.“ 18 Teilatlanten des menschlichen Körpers wird es geben – sortiert nach Organen. Vier wurden bereits veröffentlicht, der Rest soll dieses Jahr noch folgen.

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