Menschen in einer Menschenmenge tracken (Foto: IMAGO, Jochen Tack)

Gehirnforschung

Hirneigenes GPS für Wege durch Menschenmengen

Stand
AUTOR/IN
Annemarie Neumann

Gehirnzellen erschaffen beim Fortbewegen eine imaginäre Karte unserer Umgebung und unserer Bewegung. Nun haben Forschende der Universität Wien herausgefunden, wie auch die Bewegung anderer Menschen dort registriert wird. Die Ergebnisse könnten in Zukunft zur Erforschung von Demenz beitragen.

„Der sandige Boden wurde von einem blauen Himmel voller Wolken kontrastiert, während die Sonne im Zenit der kreisförmigen Arena fixiert war“, so beschreibt das österreichische Forschungsteam die virtuelle Wüsten-Umgebung in ihrer Studie. Die Teilnehmenden der Studie sollten dabei in Virtueller Realität (VR) einen Menschen in der Wüstenlandschaft beobachten und später seinen Weg nachverfolgen. Dabei wollte das Team rund um die Psychologin Isabella Wagner herausfinden, welche Bereiche im Gehirn aktiv sind, wenn es um die eigene Navigation und die Beobachtung anderer Personen geht.

Bestimmte Gehirnzellen für den Navigationsprozess zuständig

In der im Fachmagazin Nature Communications veröffentlichten Studie kamen sie zu dem Schluss, dass ein hirneigenes GPS auch auf die Bewegungen von Mitmenschen in der Umgebung achtet. Dabei lag der Fokus der Forschenden auf den sogenannten Rasterzellen. Rasterzellen sind spezielle Nervenzellen im entorhinalen Cortex, ein Bereich im Gehirn im mittleren Schläfenlappen, der für die Gedächtnisbildung mit verantwortlich ist. Bereits vor mehreren Jahren gab es den Nobelpreis auch für die Entdeckung dieser Rasterzellen als hirneigenes Koordinatensystem und deren Zuständigkeit für die Orientierung.

Gehirn mit unterschiedlicher Einfärbung der einzelnen Gehirnbereiche (Foto: IMAGO, imagebroker)
Das menschliche Gehirn ist die Steuerzentrale unseres Körper. Es lässt sich in verschiedene Bereiche unterteilen. Jeder Bereich im Gehirn ist für eine andere Aufgabe zuständig.

Das Forschungsteam knüpft an diese Erkenntnisse und weitere Forschungen an, die zum Beispiel bei Fledermäusen oder Nagetieren untersuchten, welche Zellen den Aufenthaltsort anderer kodierten. Denn in alltäglichen Situationen, wie dem Fortbewegen durch Menschenmengen in einer Fußgängerzone oder auch am Bahnhof, muss man zum eigenen Vorankommen auch die Bewegungen der anderen Personen mitdenken.

Bisher ist bekannt, dass die Rasterzellen die eigene Position im Raum registrieren und dabei die Blickrichtung, aber auch den vergangenen Weg berücksichtigen. Dieses Zusammenwirken erstellt eine imaginäre Karte im Gehirn.

Studie nutzt Virtuelle Realität

Um auch die möglicherweise weitergehende Funktion und Aktivität der Rasterzellen in einem Orientierungs- oder Navigationsprozess zu untersuchen, ließen die Forschenden 60 Testpersonen in VR eine andere Person beobachten und deren Pfad im Nachhinein in der Wüstenlandschaft nachverfolgen. Dabei wurde die Gehirnaktivität der Testpersonen durch eine sogenannte funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) gemessen und aufgezeichnet.

Eine Magnetresonanztomografie (MRT) erzeugt Schichtbilder des Körpers durch ein starkes Magnetfeld. Auf dieses Magnetfeld reagieren die Wasserstoffatome im menschlichen Körper. Die funktionelle MRT unterscheidet dazu zusätzlich zwischen aktiven und inaktiven Bereichen im Gehirn. Somit kann man den verschiedenen Gehirnregionen beim Arbeiten zuschauen.

MRT-Untersuchung (Foto: IMAGO, Westend61)
Die Magnetresonanztomografie ist ein bildgebendes Verfahren, das ohne Röntgenstrahlen Schichtbilder des Körpers erzeugt. Beim funktionellen MRT werden zusätzlich aktive Hirnregionen dargestellt. Denn sauerstoffreiches Blut hat andere magnetische Eigenschaften als sauerstoffarmes Blut. Das ist messbar.

Rasterzellen unterstützen die Bewegungsanalyse in der Umgebung

Die Bilder des fMRT zeigten, dass die Gehirnaktivität beim Beobachten der anderen Person vergleichbar mit der Aktivität der Rasterzellen bei eigener Bewegung war. Die Rasterzellen unterstützen also auch bei der Bewegungsanalyse in der Umgebung. Zudem war die Aktivität in ein Netzwerk weiterer Hirnregionen eingebunden, die auch mit Navigationsprozessen zusammenhängen. Diese Ergebnisse deuten nach Ansicht der Forschenden daraufhin, dass die Rasterzellen zu einem größeren Netzwerk an Hirnregionen gehört, die Navigationsprozesse steuern.

Auffällig war in der Studie, dass dieses Netzwerk umso aktiver war, je schlechter eine der Testpersonen dem beobachteten Pfad im Nachhinein folgen konnte. Im Umkehrschluss gilt: Je weniger das Netzwerk aktiv war, desto besser konnte der Weg nachverfolgt werden. Laut Wagner sei damit auf eine größere Effizienz der Rasterzellen zu schließen, die ein Zurückgreifen auf diese Hirnareale weniger erfordere. 

Erkenntnisse hilfreich in Demenzforschung

Die Erkenntnisse dieser Studie könnten auch in der Demenzforschung von Bedeutung sein. Orientierungslosigkeit ist ein typisches Symptom bei Menschen mit Demenz. Denn gerade dieses Netzwerk für Navigationsprozesse ist von Alterungsprozessen und bei einer Demenzerkrankung betroffen.

„Die Funktion von Rasterzellen nimmt mit dem Alter und bei Demenz ab. Das führt dazu, dass sich Personen nicht mehr zurechtfinden und die Orientierung beeinträchtigt ist.“

Die weitere Forschung soll sich daher nach Angabe der Universität Wien damit beschäftigen, ob ein weiterer Aspekt bei einer Demenzerkrankung in Zusammenhang mit den Rasterzellen steht: Das Erkennen von Personen.

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