Raumfahrt

Aufräumaktion im All: ClearSpace-1 soll Weltraumschrott beseitigen

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Thomas Hillebrandt
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Vincent Kolominsky

Seit Jahren steigt das Risiko für die Kollision von Satelliten und deren Überresten in der Atmosphäre. ESA und ClearSpace unterzeichnen daher einen Vertrag für die weltweit erste Mission zur Entfernung von Weltraummüll.

Die europäische Weltraumagentur ESA und ein Industriekonsortium unter Leitung des Schweizer Start-Up-Unternehmens ClearSpace SA unterzeichnen einen Vertrag für eine aktuell ziemlich einzigartige Dienstleistung: Zum ersten Mal in der Raumfahrtgeschichte soll ein Stück Weltraumschrott aktiv aus der Erdumlaufbahn entfernt werden. Das Abkommen hat ein Volumen von 86 Millionen Euro.

Weitere Missionen sind Teil des Plans

ClearSpace SA wird, wenn alles klappt, im Jahr 2025 diese erste aktive Mission zur Entfernung von Weltraumschrott starten, der Name: ClearSpace-1. Die Nummer macht deutlich, dass es keine Einzelaktion bleiben soll, sondern der Start regelmäßiger Weltraum-Säuberungsaktionen. Mit seinen Greifarmen soll der „Weltraum-Abschleppwagen“ dann in etwas fernerer Zukunft defekte Satelliten und größere Trümmer einsammeln und aus der Erdumlaufbahn entfernen, um die Gefahr weiterer Kollisionen und das Risiko für aktive Satelliten zu verringern.

ClearSpace ist eine Ausgründung der Eidgenössischen Polytechnischen Hochschule in Lausanne (Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne, EPFL). Am EPFL wird bereits seit Längerem an der Beseitigung von Weltraumschrott geforscht. Seit 2010 arbeiten die Wissenschaftler an dem Projekt Cleanspace One. Anfang 2018 wurde ClearSpace gegründet, das das Projekt fortführen und das Konzept als Geschäftsmodell umsetzen soll.

Beginn eines vielversprechenden Geschäftsmodells

Wenn alles klappt, könnte das der Start zu einem Multi-Milliarden-Business werden, bei dem die ESA-Anschubfinanzierung im Vergleich winzig wirken würde. 

Denn seit 1957, als der erste Satellit Sputnik startete, hat es rund 200 nachgewiesene Explosionen und Kollisionen im Weltraum gegeben. Übrig geblieben sind davon über 700.000 Objekte, die größer als ein Zentimeter sind. Immerhin rund 13.000 messen mehr als fünf Zentimeter. Experten gehen zudem davon aus, dass 170 Millionen Objekte herumschwirren, die größer als einen Millimeter sind.

Teilchen sind schneller als eine Gewehrkugel

Rund 6.500 Tonnen Schrott rasen über unseren Köpfen dahin. Er entsteht zum Beispiel, wenn zwei Satelliten zusammenprallen. Manche dieser Objekte sind ziemlich groß, andere winzig klein. Gefährlich ist Weltraumschrott aber immer: Bei einer Geschwindigkeit von mehreren zehntausend Kilometern pro Stunde verwandeln sich selbst winzige Partikel in zerstörerische Geschosse.

Flughöhe der Bruchstücke extrem unterschiedlich

Die Bruchstücke sind allerdings recht unterschiedlich verteilt: Die meisten umkreisen die Erde mit einem Abstand von 800 bis 1.000 Kilometern. Viele Teile sind auch in einer Höhe von 1.400 Kilometern. Dann gibt es eine große Lücke. Zahlreiche Objekte sind wieder in der Zone von rund 20.000 Kilometern Abstand zur Erde zu finden: Dort befinden sich die Navigationssatelliten.

Eine große Zahl von Trümmerstücken gibt es schließlich in einer Höhe von etwa 36.000 Kilometern. Dort gefährden sie Satelliten, die sich in einer sogenannten geostationären Umlaufbahn befinden. Das heißt, dass sie von der Erde aus gesehen still zu stehen scheinen. Satelliten in dieser Höhe sind unter anderem für die Übertragung von Fernseh- und Radioprogrammen sowie von Telefongesprächen und Daten zuständig.

Satelliten-Boom bei Militär und Privatunternehmen erhöht Kollisionsgefahr

Aktuell gibt es fast 2.000 aktive und mehr als 3.000 ausgefallene Satelliten im Weltraum. Die Zahl der Satelliten wird in den kommenden Jahren noch deutlich ansteigen, wenn Unternehmen wie Oneweb, SpaceX oder Amazon ihre eigenen Konstellationen für Satelliteninternet aufbauen und sich viele Staaten schon jetzt für Militärprojekte im All wappnen.

Experten warnen seit einiger Zeit vor diesen Megakonstellationen, die zur Bedrohung für andere Raumfahrzeuge werden können. Die Internationale Raumstation ISS und auch Satelliten zeigen bereits Spuren von Kollisionen. Selbst wenn ab sofort keine Starts ins All mehr erfolgen würden, würde das Problem laut ESA wegen Zusammenstoßen von Satelliten immer noch größer werden.

Bedrohung durch Wrackteile wächst

Das Problem ist seit langem bekannt. Das Kessler-Syndrom, oder auch Kessler-Effekt, ist die ständige Zunahme der Zahl kleiner Objekte im Weltraum durch zufällige Kollisionen. Benannt ist dieses Szenario nach dem US-Astronomen Donald J. Kessler, der schon 1978 davor warnte, dass die Raumfahrt für kommende Generationen riskanter werde.

Zu Beginn der Raumfahrt hatte wohl niemand das Müllproblem in der Erdumlaufbahn auf dem Schirm. Doch seit geraumer Zeit warnen Experten vor einer drastischen Zunahme des Weltraumschrotts. Teile aus dem All könnten auf die Erde stürzen oder zu Kollisionen im Weltraum führen, mit zerstörerischen Folgen. Die Objekte treffen mit einer Geschwindigkeit von bis zu 40.000 Kilometern pro Stunde aufeinander. Bei jeder Kollision entstehen Tausende neue Teile, die um die Erde sausen.

Ausweichmanöver gehören heute schon zum Alltag der Raumfahrt

Die einzige Möglichkeit, das Problem umfassend und möglichst schnell zu lösen, das ist mittlerweile allen Raumfahrtnationen klar, ist daher, große Trümmer aktiv aus der Umlaufbahn zu entfernen. Eine Studie der US-Raumfahrtorganisation NASA empfiehlt, dass 99 Prozent aller künftigen Satelliten zum Absturz gebracht werden sollen, wenn sie ihre Mission erfüllt haben. Nur so wäre Raumfahrt auch in den kommenden Jahrzehnten möglich.

Hier soll der nun unterschriebenen Vertrag zwischen der ESA und dem Industriekonsortium dafür sorgen, dass nach vielen Konferenzen zu diesem Thema nun erstmals konkret agiert wird. Ziel der ClearSpace-1-Mission ist die Vespa (Vega Secondary Payload Adapter). Dieses Objekt wurde nach dem zweiten Flug der europäischen Trägerrakete VEGA ausgesetzt und kreist seitdem in einer Höhe zwischen 660 und 800 Kilometern um die Erde.

Mit einer Masse von 112 kg ist das Vespa-Zielobjekt in etwa so groß wie ein Kleinsatellit. ClearSpace-1 soll dieses Teil einfangen und mit ihm zusammen in die Erdatmosphäre eintreten und dabei verglühen.

Milliarden für die europäische Raumfahrt

Für die ESA werden Experten im Darmstädter European Space Operations Centre (ESOC) das Vorhaben begleiten. Möglich geworden ist die geplante Mission durch den jüngst beschlossen Rekordhaushalt für die ESA. Die 22 Mitgliedsländer beschlossen Ende November 2019 im spanischen Sevilla eine unerwartet starke Anhebung des Budgets für die kommenden drei beziehungsweise fünf Jahre auf 14,4 Milliarden Euro. Allein Deutschland hob die finanziellen Mittel von 1,9 auf 3,3 Milliarden für die Raumfahrtprojekte an und ist damit stärkster Beitragszahler. 

Das European Space Operations Centre (ESOC) in Darmstadt (Foto: IMAGO, imago images / epd)
Das European Space Operations Centre (ESOC) in Darmstadt gibt es schon seit über 50 Jahren und ist damit älter, als die ESA selbst, die das Raumflugkontrollzentrum für die Überwachung und Untersuchung von Satelliten und Weltraumschrott nutzt.

Es geht um einen Zukunftsmarkt. Wer künftig einen Satelliten ins All schießt, soll, so die ESA, entweder nachweisen, dass dieser entweder automatisch zurückkomme und verglühe, einen Vertrag mit einem Unternehmen für eine Rückholung haben oder eine Art Pfand abgeben, damit ein Unternehmen beauftragt werden könne.

"Das Beispiel wird Schule machen. Ich bin ganz fest davon überzeugt, das ruft jetzt andere auf den Plan."

Die Beseitigung von Weltraumschrott ist für den ESA-Generaldirektor Jan Wörner ein Zukunftsmarkt. Das Weltall sei Infrastruktur, die täglich für eine Vielzahl von Anwendungen genutzt werde. Diese Infrastruktur zu schützen sei ein großer Wert.

Parabolantenne einer Erdfunkanlage (Foto: IMAGO, imago images / CHROMORANGE)
Mit Parabolantennen wie dieser fangen Erdfunkanlagen die Signale zahlreicher militärischer oder auch ziviler Satelliten auf. Dieser Austausch ermöglicht erst einen stetigen globalen Informationsfluss.
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